Welche Berge versetzt der Glaube? – Über die Psychologie der Spiritualität
25. Mai 2020
Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer
Von Dr. Kerstin Schimmel
In Zeiten der Krise wie gegenwärtig wird häufig danach gefragt, was uns stärkt. Geschlossene Kirchen bei gleichzeitig geöffneten Autohäusern – das wurde von vielen nicht verstanden. Es wurde gesagt, dass der Konsum allein eine Gesellschaft nicht zusammenhalten könne. Doch die Bedeutung der Religion in den westlichen Gesellschaften nimmt ab. Wie ist das aus Sicht der Psychologie? Psychologie und Religion waren ja nicht immer beste Freunde …
Dr. Elmer: In der frühen Psychoanalyse, besonders bei Freud, wurde Religion tatsächlich als tröstende Illusion gedeutet. Das hatte natürlich auch damit zu tun, dass die Kirchen damals oft eng mit den Herrschenden verbunden waren. Doch schon Freuds Gegenspieler C.G. Jung sah das völlig anders: für ihn gehörte Religion zum Menschsein dazu. Heute steht etwas anderes im Fokus: der Glaube als Möglichkeit, die inneren Kräfte eines Menschen zu stärken. Vieles spricht dafür, dass Glaube die Widerstandsfähigkeit von Menschen bei Stress oder gar nach Traumata stärkt. Der Wiener Psychotherapeut Viktor Frankl, der selbst im Konzentrationslager war, hat in seinen Erfahrungen und Gesprächen mit anderen im KZ Inhaftierten Belege dafür gefunden und nach dem Zweiten Weltkrieg darüber ein bewegendes Buch geschrieben.
Was heißt das konkret? Gibt es hierzu neuere Forschungen?
Dr. Elmer: Sowohl die innere Haltung als auch religiöse Praktiken können helfen, das seelische Gleichgewicht zu halten bzw. wiederherzustellen. Das Gebet etwa hilft, ruhiger und gelassener auf Stress zu reagieren. Unter Stress ist die Amygdala, der Mandelkern im Gehirn, sehr aktiv. In der Folge sind wir aufgewühlt. Im Gebet wird der Präfrontale Cortex aktiv und hilft, unsere Stressreaktionen herunter zu regulieren. Aber es geht nicht nur um „Techniken“, sondern auch um Umfassenderes: Wer in seinem Leben Sinn sieht, ist besser in der Lage, schwierige Situationen zu meistern.
Der Soziologe Max Weber hat sich als „religiös unmusikalisch“ beschrieben. Nicht jeder Mensch ist gleichermaßen „religiös musikalisch“, oder?
Dr. Elmer: Aber die klare Trennung, wie man sie lange als erwiesen hielt, gilt so strikt auch nicht mehr: dass intuitive Menschen eher religiös, analytische meist atheistisch seien. Neuere Experimente lassen den Schluss zu, dass analytisches Denken und Glaube sich nicht ausschließen.
Was ich als sehr beruhigend empfinde: Glaube und Vernunft schließen, psychologisch gesehen, einander nicht aus. – Bisher haben wir von Religion und Glauben ganz allgemein gesprochen. Gibt es etwas Spezifisches, dass für das Christentum gilt?
Dr. Elmer: Hier kann man etwas ganz Interessantes feststellen: Im Christentum gibt es nämlich zwei unterschiedliche, jedoch jeweils sehr bedeutsame Traditionen. Da ist zum einen das Prinzip Hoffnung, wie es sich auch im Gebet äußert. Beten erfolgt ja auf der Basis, sich in allem Zweifel in einer Beziehung zu Gott aufgehoben zu fühlen und darauf zu hoffen, dass unser brüchiges Leben einen Sinn hat und am Ende zu einem Ganzen zusammengefügt wird. Dass die Zukunft hell die Finsternisse der Gegenwart überstrahlt. Die Erzählung des Exodus aus der ägyptischen Knechtschaft etwa ist ein starkes Narrativ der Hoffnung – im Judentum stärker präsent, im Christentum verschütteter. Hoffnung, die zum Handeln befähigt, ist aber eine ganz wichtige Basis, aus seelischer Erschöpfung wieder in ein Gleichgewicht zu kommen.
Zum anderen gibt es neben dieser Zukunftsorientierung einen ganz anderen, nur scheinbar gegensätzlichen Punkt: einen spirituellen Kern, der sich auf das Hier und Jetzt in der Meditation konzentriert. Achtsamkeit ist heute in aller Munde, nicht nur in der Psychotherapie. Die Schriftstellerin Sandra Miriam Schneider etwa hat hier in der Evangelischen Akademie bereits Schreibwerkstätten zum „achtsamen Schreiben“ veranstaltet. Meist bringen wir Achtsamkeit mit dem Buddhismus in Verbindung. Dabei wird übersehen, dass es im Christentum eine reiche, wenn auch etwas zugedeckte Tradition der mystischen Versenkung gibt, die sehr viele Berührungspunkte zu Achtsamkeitsprinzipien hat. Die Hagios-Abende, die auf den Komponisten Helge Burggrabe zurückgehen und ja auch in der Evangelischen Akademie eine Rolle spielen, speisen sich auch aus dieser psychologisch bedeutsamen Quelle.
Glaube, Religion und Spiritualität scheinen also bedeutsame, ja heilsame psychologische Wirkungen zu entfalten. Gibt es aber auch so etwas wie unerwünschte religiöse Nebenwirkungen?
Dr. Elmer: Aus der Erforschung von Sekten wissen wir, dass Glaube sein kreatives Potential vor allem dann entfaltet, wenn die Gemeinschaft, die ihn teilt, offen bleibt. Religiöse Gemeinschaften mit dem Anspruch, die letzten Wahrheiten exklusiv zu besitzen, laufen Gefahr, sich abzuschotten und verkrümmte Individuen zu produzieren. Glaube, der offen bleibt für andere Menschen und neue Erfahrungen, glättet nicht das krumme Holz, aus dem wir gemacht sind. Aber er ermöglicht den aufrechten Gang ohne Selbstüberschätzung.
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