Stressbewältigung aus theologischer Sicht
22. Januar 2021
Von Stephan Bickhardt
Auf dem Bahnhof Dresden Neustadt gehe ich die Stufen vom Bahnsteig hinunter in die Bahnhofshalle. Die Ansage aus dem Lautsprecher schließt mit den Worten: und bitte bleiben Sie gesund. Bleib gesund, was für ein Imperativ. Das Wort „bitte“ suggeriert einen indikativischen Sinn. Wir wollen doch alle gesund bleiben. Der Bahnreisende auf der Treppe wird mit einer Art neuem kategorischen Imperativ erinnert – und soll sich fortan in jedem Moment erinnern –, dass er oder sie zu seinen Gunsten und zu Gunsten dritter Regeln einhalten soll.
Was auf der einen Seite auf völlige Zustimmung trifft, ist andererseits problematisch, denn der Stress der Pandemiebewältigung kann in jedem Moment imperativisch über den Menschen herfallen. Dauerstress. Die Autorin Stephanie Kleiner spricht im Sammelband „Stress und Unbehagen. Glücks- und Erfolgspathologien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ von der Kontrollgesellschaft, in welcher wir uns in immer stärkerem Maße befinden.
Der durchaus sinnvolle Aufruf im Bahnhof, doch bitte gesund zu bleiben, ist Ausdruck einer Kontrollgesellschaft. Das damit einhergehende Gefühl von Ausgeliefertsein, aber eben auch von der Obsession eines Pflichtverhaltens, ist offenkundig. Was soll da noch entlasten, wer? Kann das auf Individualethik zielende biblische Menschenbild für die gesellschaftspolitischen Herausforderungen leitend sein? Gibt es christlich aufzugreifende Gegenstrategien und Glückstechniken, mit Stress und Dauerstress fertig zu werden? Und wie können wir uns selbst und anderen helfen?
Das biblische Zeugnis von Mensch und Gott stellt im Blick auf Entlastung von Stress und Druck eine klares Bild zur Verfügung, eine Antwort: vergib du, dir ist vergeben, vergib uns, uns ist vergeben – oder wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt: Ich glaube an die Vergebung der Sünden. Der dritte Glaubensartikel über den Heiligen Geist spricht von wenigen Glaubensgegenständen. Er spricht beispielsweise nicht vom Abendmahl, eine für viele Menschen erstrangige Entlastung von eben dem, was belastet. Der dritte Glaubensartikel spricht im Kern von Gemeinschaft und Vergebung. Gott vergibt, so kann ich anderen und mir selbst vergeben.
Im Lukasevangelium Kapitel 15 sind in drei Gleichnissen, den Gleichnissen vom verlorenen Schaf, vom verlorenen Groschen, vom verlorenen Sohn Beispiele von Vergebung erzählt, die von solcher Entlastung sprechen, dass „Freude im Himmel“, „Freude vor den Engeln Gottes“ und „Fröhlichsein“ über den wiedergefunden Sohn echt erlebt wird. Wirkliche Entlastung und Befreiung vom Dauerstress, hier von der Angst des Menschen, etwas Falsches zu tun, drängt zur Gemeinschaft, sie geht in ihr auf und erlebt Gemeinschaft im Sinne der Erlösung, beginnend bei der Beziehung zweier Menschen.
Nun heißt das große Entlastungsversprechen des Glaubens: Vergebung, Erlösung von den Sünden, im Vaterunsergebet sogar Erlösung von dem Bösen. Der Theologe und Religionsphilosoph Ingolf U. Dalferth hat kürzlich ein umfassendes Werk vorgelegt, welches den Titel trägt „Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit“. Sein Weg durch die Geistes- und Theologiegeschichte mündet ein in die Unterscheidung von vita activa und vita passiva, die in heute gebräuchlicher Fassung von der jüdische Philosophin Hannah Ahrendt stammt. Ingolf U. Dalferth beklagt, dass der Mensch – für mich ist das hier der moderne Mensch in der Kontrollgesellschaft – seine Aktivitätskompetenz pflegt und einfach nicht zur Ruhe kommt.
Ich folge diesem Gedanken, denn unser Leben ist sehr viel mehr von Passivität geprägt als wir wahrhaben wollen. Bevor der Mensch selbst handelt, wird das Selbst des Menschen geprägt. Vieles passiert uns, bevor wir im Stande sind, selbst etwas zu bewirken. So ist es auch mit dem Stress, der über uns hereinbricht, uns reizt. Der Stress fordert. Eine wirkliche Bewältigung braucht eine Handlung aus ursprünglicher Passivität. Diese Wahrnahme ursprünglicher Passivität und die Akzeptanz dieser Passivität sind ausschlaggebend dafür, ob die sinnvolle Aktivität, eben auch die Aktivität der Stressbewältigung gelingt. Natürlich gehört beides zu unserem Leben, die Aktivität und die Passivität. Ingolf U. Dalferth führt den Begriff der Tiefenpassivität ein, der Empfänglichkeit, die eben auch bereit ist wahrzunehmen, dass andere an mir handeln, ja dass Menschen und Gott mich menschlich machen.
Wir sind hier an einem wichtigen Punkt. Denn wir befinden uns gegenwärtig in einer Rezeption der mystischen Theologie, die in Mittelalter, Neuzeit und Moderne einige VertreterInnen aufweist. Diese Theologie der Einsenkung in Gott und Mitwelt aktiviert die Tiefenpassivität. Ein Beispiel aus der mittelalterlichen Theologie. Die Theologie des Bernhard von Clairvaux, Mitgründer des Zisterzienserordens. Er weitet das Vergebungshandeln Gottes an uns Menschen in zweifacher Hinsicht. Erstens denkt er an Stufen der Demut für die in Enthaltsamkeit lebenden Mönche und Nonnen. Und zweitens formuliert er Stufen der Liebe für jedefrau und jedermann.
Die erste Stufe der Liebe ist, wenn man/ frau sich selbst im eigenen Interesse liebt. Wie gut, wenn der natürliche Mensch sich selber liebt. Stressresistenz. Die zweite Stufe der Liebe ist, wenn man Gott im eigenen Interesse liebt. Wie gut, wenn Mann oder Frau das Flehen in Not an Gott richtet. Die dritte Stufe der Liebe ist, wenn man/ frau Gott um seiner selbst willen, also wegen Gott liebt. Wie gut, dass Eigeninteresse mit Gottesbewusstsein zusammen findet. Die Lebensangst verschwindet. Die vierte Stufe der Liebe ist, wenn man/ frau sich selbst um Gottes Willen liebt. Wie gut, der Mensch verliert die Angst vor dem Tod. Gott ist ewig.
Ist es nicht die dritte Stufe, frage ich, die insbesondere entlastet? Die dritte Stufe, die hilft, die Angst der Gegenwart anzunehmen. Und aus der Bedrängung ein Stück weit herauszutreten. Ich bin auf einer Ebene des positiven, des Eu-Stresses, der Konflikte besteht, der Vergewisserung sucht, der dem Ausgeliefertsein wehrt. Ich liebe Gott für mich und weiß, Gott liebt meinen Nächsten. Dies hat politische Folgen. Ich entgrenze und bin aktiv für andere in der Gesellschaft. Guter Stress kann falschen abbauen.
Ich möchte schließen mit einem Beispiel: In meiner Funktion als Polizeiseelsorger in Sachsen kam einmal die Frage von Kriminalisten der Terrorabwehr an mich, ob ich bereit wäre, gemeinsam mit Beamten des sächsischen Landeskriminalamtes sogenannte Enthauptungsvideos des IS anzusehen. Es galt, deutsche Täter zu identifizieren. Ich wollte gleich Ja sagen, zögerte einen Moment und sagte: Nein. Denn ich bin für die emotionale Bewältigung der Menschen zuständig. Darum: Nein sagen ist wichtig, um nicht in Auslieferung und Ablenkung zu geraten, sehr wichtig. Die Liebe zu Gott, die der Eigenliebe die Richtung gibt, darf nicht entgleisen. Sie darf nicht alles tun wollen, sich selbst übernehmen oder gar verherrlichen. Aus der Vergebung leben ermöglicht, ein engagierter Mensch zu sein. Menschen im Geist der Vergebung – sie leben in innerer Versöhnung und im Einverständnis mit ihrer eigenen Biographie.