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„Das ist ungerecht!“: Über Gerechtigkeit und Gruppenegoismus


4. Mai 2020

Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer

Von Dr. Kerstin Schimmel

 

In die Corona-Debatte kommt ein neuer Ton: So wird etwa gefragt, ob es gerecht sei, für eine Minderheit von Älteren und Vorerkrankten eine Mehrheit massiv einzuschränken.  Worin wurzelt eigentlich unser Gerechtigkeitsempfinden, psychologisch gesehen?

Dr. Elmer: Aus entwicklungspsychologischen Experimenten wissen wir: ungefähr ab dem dritten, spätestens ab dem fünften Lebensjahr entwickeln Kinder ein Gerechtigkeitsgefühl. Der Mensch ist ab da immer besser in der Lage, die Bedürftigkeit anderer zu erkennen und dann eben auch in seine Überlegungen und Handlungen einzubeziehen. Das hängt mit der sich ausdifferenzierenden Fähigkeit zusammen, einen Perspektivenwechsel einzunehmen, sich in den anderen hineinzuversetzen.

 

Ich würde zunächst davon ausgehen, dass die Empfindung von Ungerechtigkeit und ausgleichendes Handeln vorwiegend erlernt sind. Wenn Kinder Süßigkeiten abgeben oder Spielzeug teilen, hat das ja auch etwas mit Normen der Erwachsenen und der Gruppe der Gleichaltrigen zu tun.

Dr. Elmer: Das ist zwar richtig, doch kommt auch eine andere Seite dazu. Gerechtigkeitssinn ist wohl auch im Laufe der Evolution entstanden. Aus Tierexperimenten der Verhaltensforschung wissen wir, dass zumindest einige Primaten sich nach Prinzipien der Gerechtigkeit verhalten können, sich also etwa bei der Zuteilung von Nahrung nicht rein egoistisch verhalten, wie wir vielleicht vermuten würden. Das Empfinden von Gerechtigkeit hat offensichtlich viel damit zu tun, wie nicht nur Menschen, sondern auch viele Tiere es schaffen, sich in Gruppen so sozial zu verhalten, dass Kooperation ermöglicht wird.

 

Dann müsste sich das ja auch biologisch widerspiegeln.

Dr. Elmer: Bestimmte Hirnregionen, etwa im Präfrontalen Cortex, dem Stirnhirn, sind besonders aktiv in Situationen, in denen es um Gerechtigkeit geht. Und zwar unabhängig davon, ob ich mich selbst oder andere ungerecht behandelt fühle.

 

Aber was als ungerecht empfunden wird, ist doch individuell verschieden.

Dr. Elmer: Das ist richtig. Es ist auch recht komplex: In der Psychologie wird nach unterschiedlichen Rollen unterschieden: Opfer, Täterinnen und Täter, Nutznießerinnen und Nutznießer haben ja ganz unterschiedlich Perspektiven und verknüpfen ihr Gerechtigkeitsempfinden mit unterschiedlichen Gefühlen: Wer ungerechtfertigt einen Vorteil aus einer Situation zieht, empfindet eher Schuld, wer ungerechtfertigt verliert, empört sich. Doch wie sehr ich diese Gefühle empfinde, ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. So gibt es manche Menschen mit sehr hoher Opfersensibilität: sie fühlen sich rasch ungerecht behandelt, reagieren mit einer Mischung aus Kränkung und Empörung. Das kann auch in Zorn und Aggression münden.

 

Wir sehen das, meiner Meinung nach, bei Phänomenen wie Pegida. Hier fühlt sich ja eine ganze Gruppe ungerecht behandelt.

Dr. Elmer: Genau. In der Sozialpsychologie ist die Unterscheidung von Eigen- und Fremdgruppe sehr bedeutsam. Die Abgrenzung einer Gruppe nach außen vermittelt das Gefühl der Sicherheit. Dazu gehört auch, Gerechtigkeit primär für die eigene Gruppe zu reklamieren. Oder eben auch, die Interessen einer Gruppe gleichzusetzen mit den Interessen aller.

 

Recht und Gerechtigkeit sind ja zwei paar Stiefel. Damit Gerechtigkeit sich in Recht verwandelt, müssen sich Gerechtigkeitsprinzipien meines Erachtens von Gruppenegoismen lösen. Doch Gerechtigkeit ist eher konkret, Recht abstrakt.

Dr. Elmer: Das sehe ich auch so. Doch nur universelle Prinzipien wie die Menschenwürde gewährleisten, dass eben z.B. die Rechte Jüngerer nicht gegen die Rechte Älterer ausgespielt werden, da jedem Menschen eine individuelle Würde zukommt. Erst die Abwägung abstrakter Rechtsgüter – etwa des Rechts auf Leben und des Rechts auf Freizügigkeit – erlaubt eine vernünftige Diskussion. Z.B. darüber, inwieweit der Schutz vor finanziellen Verlusten von Restaurantbesitzern eine strikte Isolation von Altersheimen rechtfertigt.

 

Auf diesem abstrakten Niveau wird die Diskussion aber auch schnell blutleer.

Dr. Elmer: Wenn es konkret wird, kommt dann schon emotionaler Pfeffer in die Diskussion. Und um weder einseitig Emotionen zu wecken noch rein theoretisch zu debattieren, brauchen wir eben ein Training. Das klappt nämlich nur, wenn wir lernen, die Perspektive der anderen einzunehmen. Und das können wir üben – wenn wir es denn wollen!

 

 

Illustration: Jozef Mikulcik auf Pixabay

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