„Das ist meine Freiheit!“ – der kurze Weg vom Freiheitsimpuls zur Verschwörungstheorie
11. Mai 2020
Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer
Von Dr. Kerstin Schimmel
Immer stärker hört man derzeit, zuletzt vom Tübinger Oberbürgermeister Palmer, man solle auf Risikogruppen der Corona-Pandemie nicht unverhältnismäßig Rücksicht nehmen. Sind wir Menschen, psychologisch gesehen, Egoisten?
Olivier Elmer: Eigentlich ist der Mensch ein soziales, zur Empathie befähigtes Wesen. Aber in Zeiten der Unsicherheit tendiert er dazu, sich in seine Bezugsgruppe zurückzuziehen. Das ist ja auch bequem: Wenn ich mich der Gruppe der Jüngeren zugehörig fühle, kann ich deren Freiheiten für mich reklamieren und das Risiko der anderen Gruppe, hier den Älteren oder Vorerkrankten, aufbürden. Dabei wird aus der gleichen, Sicherheit vorgaukelnden Bequemlichkeit natürlich übersehen, dass es gar keine trennscharfen Risikogruppen gibt. Aber die Psyche hat ihre eigene Logik. All das ist nicht besonders christlich, aber allzu menschlich.
Das Pochen auf Freiheitsrechte ist aber derzeit besonders laut zu vernehmen. Und ist es nicht auch gut, wenn Menschen für ihre Bürgerrechte eintreten?
Olivier Elmer: Zunächst ist es ja legitim, nach der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen wie z. B. Einschränkungen der Versammlungsfreiheit zu fragen. Doch psychologisch gesehen, handelt es sich nicht um einen rationalen Diskurs. Man nennt das in der Psychologie Reaktanz: das ist das Bestreben, tatsächlichen oder vermeintlichen Einschränkungen unserer Autonomie mit Auflehnung zu begegnen. So werden etwa unter dem Motto „Das lass ich mir nicht verbieten!“ Abstandsregeln missachtet. Wir kennen das von Kindern – da spricht man dann von Trotz. In der kindlichen Entwicklung ist diese Phase wichtig – aber sie sollte dann auch überwunden werden.
Ich habe allerdings den Eindruck, dass diese Haltung bisweilen bis hin zu Verschwörungstheorien führt. So glauben einige, Corona sei eigentlich harmlos und die „Herrschenden“ würden Panik schüren, um Grundrechte auszuhebeln.
Olivier Elmer: Die derzeit vermehrt genutzten sozialen Medien bieten dafür mit ihren Filterblasen, in denen ich ohne Faktencheck immer den gleichen, sich gegenseitig bestätigenden Meinungen begegne, einen idealen Nährboden. Doch Verschwörungstheorien sind älter als das Internet. Dabei ist die Bereitschaft, sich auf Verschwörungstheorien einzulassen, individuell unterschiedlich ausgeprägt. Man nennt das in der Psychologie Verschwörungsmentalität.
Welche Faktoren begünstigen denn eine solche Mentalität? Ich könnte mir vorstellen, dass Gruppen, die sich benachteiligt fühlen, eher dazu tendieren.
Olivier Elmer: In der Tat neigen Minderheiten, die sich ausgegrenzt fühlen, eher dazu. Verschwörungstheorien liefern ja nicht nur einen Sündenbock für unangenehme Ereignisse, sondern polieren auch das Selbst auf: Ich gehöre dann zu den Wissenden, die tumben Schafe hören hingegen auf die sogenannten Mainstream-Medien. Aus der Forschung wissen wir, dass Menschen oft dazu neigen, einem besonderen Ereignis eine besondere Ursache zuzuschreiben. So konnte der Tod von Prinzessin Diana nicht Folge eines banalen Verkehrsunfalls sein. Da mussten schon finstere Mächte dahinter stecken. Und eine Pandemie kann, so gesehen, nicht Folge einer beißenden Fledermaus sein – da muss denn schon ein Geheimdienst dahinter stecken.
Nun kann das ja aber auch sein. Die Begründung für den Irak-Krieg war ja auch eine Konstruktion der damaligen Bush-Regierung und ihrer Geheimdienste.
Olivier Elmer: Klar. Alles ist grundsätzlich möglich. Der Unterschied bei Verschwörungstheorien ist jedoch, dass sie sich nicht rational diskutieren lassen. Wenn man andere Ursachen anführt, gilt man halt schnell als das verirrte Schaf, das den bösen Öffentlich-Rechtlichen glaubt.
Was trägt denn individuell zu einer Verschwörungsmentalität bei?
Olivier Elmer: Angst und Unsicherheit sind die bekanntesten Triebfedern, auch ein dominant intuitiver, wenig analytischer Denkstil. Auch abergläubische und magische Denkstile finden sich häufig, interessanterweise auch oft eine Ablehnung naturwissenschaftlicher Medizin.
Nun gibt es ja auch gute Gründe, kritisch auf unseren Medizinbetrieb zu schauen …
Olivier Elmer: Gewiss. Aber hier geht es nicht um einen kritischen Blick, sondern um vorgefasste Urteile. In einem Experiment wurden die Teilnehmenden gebeten, ein fiktives neues Medikament zu bewerten. Einmal wurde gesagt, es sei von einem großen, bekannten Pharma-Unternehmen entwickelt worden; ein anderes Mal, dass ein kleines, „alternatives“ Unternehmen es entwickelt habe. Je höher die Verschwörungsmentalität ausgeprägt war, desto größer war die Bereitschaft, unabhängig von anderen Informationen dem Produkt der „alternativen“ Firma eine bessere Wirksamkeit zu unterstellen.
Es sind ja jetzt auch viele Impfgegner auf Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen.
Olivier Elmer: Als ich neulich einen Bericht über die Stuttgarter Demo gegen Corona-Maßnahmen gesehen habe, kam ein Demonstrant zu Wort, der sagte, er sei beunruhigt über die diskutierte Impfpflicht und deshalb auf der Straße. Dabei wird dieses Thema nur innerhalb bestimmter Filterblasen diskutiert – einen Impfstoff gibt es ja noch gar nicht! Doch die ersten Petitionen dagegen sind schon im Netz. Das nenne ich vorausschauende Reaktanz. Aber ein größeres Maß an Freiheit werden wir so sicher nicht gewinnen. Nur einen Verlust an Empathie.
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