„Hoch explosive Beziehungsgeschichte“

Der ehemalige deutsche Botschafter in Armenien, Hans-Jochen Schmidt, über den aktuellen Konflikt um Bergkarabach im Gespräch mit Studienleiterin Dr. Julia Gerlach

Es herrscht wieder Krieg im Süden des Kaukasus, jener Region zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, die eine Brücke zwischen Asien und Europa bildet. Menschen leiden, Menschen sterben, Menschen tun einander viel Leid an in dem Konflikt um Bergkarabach, der seit Jahrzehnten schwelt und nun wieder ein kriegerisches Ausmaß angenommen hat. Hier skizziert Hans-Jochen Schmidt, ehemaliger Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Eriwan/Republik Armenien (2009-2012) die Hintergründe.

Hans-Jochen Schmidt war von 2009 bis 2012 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Eriwan/Republik Armenien. Foto: privat

Worum geht es bei dem Konflikt in Bergkarabach?

Der Bergkarabach- Konflikt ist ein Konflikt der Staaten Armeniens und Aserbeidschans um die Region Bergkarabach im Südkaukasus, die hauptsächlich von Armeniern (mit einem Bevölkerungsanteil von konstant über 85 Prozent seit 1918) bewohnt wird. In dem Konflikt prallen die zwei völkerrechtlichen Prinzipien „Territorialitätsprinzip“ versus „Recht auf Selbstbestimmung“ bisher unversöhnlich aufeinander. Der Konflikt ist ein schwelender und intervallmäßig wiederholt aufflammender. Zu Kriegshandlungen kam es zwischen 1918 und 1923 sowie nach 1988 infolge des Sumgait-Massakers an Armeniern. Der sich daran anschließende Krieg von 1991 bis 1994 forderte ca. 20.000 Todesopfer.

Aserbaidschan reklamiert Bergkarabach unter Verweis auf das völkerrechtlich anerkannte und in UNO-Resolutionen in den 1990-er Jahren bekräftigte Territorialitätsprinzip als zu seinem Staatsgebiet gehörig; Armenien verweist auf das von der Bevölkerung Bergkarabachs in Abstimmungen seit 1990 wiederholt zum Ausdruck gebrachte Recht auf Selbstbestimmung. Problematisch ist, dass der schwelende Konflikt zur Herausbildung von Ressentiments, die einer Kompromisslösung zuwiderlaufen, gezielt genutzt wird.

Aserbaidschan geht es insbesondere um die Rückeroberung der an Armenien verlorenen Gebiete jenseits von Bergkarabach sowie die Wiedereingliederung Bergkarabachs ins Staatsgebiet nach dem Territorialprinzip. Den Armeniern geht es um die Respektierung des Rechtes auf Selbstbestimmung— und sie berufen sich auf die, wenn auch völkerrechtlich umstrittene, Rechtsfigur der „Kraft des Faktischen“. Für Armenien sind Bergkarabach und die umliegenden eroberten Gebiete von strategischer, sicherheitspolitischer und infrastruktureller Bedeutung.

Welche Staaten sind aktuell in den Konflikt involviert und wie?

Die Konfliktstaaten sind Aserbeidschan und Armenien. Zweifelsohne intensiv involviert ist die Türkei, die mit logistischer und waffentechnischer Beratungsleistung Aserbaidschan proaktiv unterstützt sowie mit der Einschleusung von Söldnern aus Libyen und Syrien gemäß französischer und russischer jeweils hochrangiger Aussage zu einer Konfliktverschärfung maßgeblich beiträgt. Problematisch ist ferner die von Staaten wie Russland, Israel, Ukraine, Belarus, Serbien und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterfütterte asymmetrische Aufrüstung der Konfliktstaaten und hiermit zur regionalen Destabilisierung erheblich beiträgt.

Welche Auswirkungen hat die aktuelle kriegerische Zuspitzung des Konflikts auf Menschen in Bergkarabach, Armenien und Aserbaidschan?

Die Bevölkerung Bergkarabachs leidet besonders unter den kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Verlustziffern und die Zerstörungen von Häusern, Siedlungen und Infrastruktureinrichtungen wiegen am schwersten, sind jedoch wegen der schwierigen Erhebungslage schwer verlässlich bezifferbar. Der Krieg wird zu einer fortschreitenden Verarmung weiter Teile der Bevölkerung im Konfliktgebiet und in Armenien beitragen, die von Armenien zu schulternden Kriegsausgaben den Staatshaushalt stark und wohl noch disproportional stärker als bisher der Fall belastend.

Was bedeutet die kriegerische Zuspitzung des Konfliktes für die Region des Kaukasus und angrenzende Gebiete?

Fraglich ist, inwieweit es den Konfliktparteien unter Vermittlung der internationalen Staatengemeinschaft (zuvorderst Russland, Frankreich und den USA) gelingen wird, einen halbwegs belastbaren modus vivendi in die hoch explosive Beziehungsgeschichte zwischen Armenien und Aserbaidschan herbeizuführen – und dabei die Türkei einzubeziehen. Der türkische Präsident gießt aktuell mit nationalistisch-religiösen Tönen Öl ins Kriegsfeuer.

Welche Rolle spielen Religionen in dem Konflikt um Bergkarabach?

Der Konflikt um Bergkarabach ist eher ein ethnischer Konflikt, kein tatsächlich religiös untermauerter, auch wenn mit Aserbaidschan und Armenien ein muslimisches und ein christliches Land Krieg führen. Die Aufgabe der religiösen Führungen in beiden Ländern sollte es an sich sein, grenzüberschreitend als Brückenbauer für ein besseres Verständnis der Zivilgesellschaften untereinander zu fungieren. Vereinzelte Versuche in dieser Richtung gab es—dies jedoch leider von staatlicher Seite leider nicht erwünscht oder gutgeheißen.

Wie können Deutschland und/oder internationale Organisationen in dem Konflikt vermitteln?

Die Europäische Union (EU) unter der EU- Ratspräsidentschaft Deutschlands, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UNO) unter deutscher Initiative, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind gefordert, mäßigend auf die Konfliktparteien einzuwirken. Nachteilig ist, dass Aserbaidschan den auch von Deutschland unterstützten Minsk-Gruppen-Prozess unter Vermittlung Russlands, Frankreichs und der USA nicht mehr als zielführend betrachtet, da er nach dem Verständnis Aserbaidschans keinen Lösungsfortschritt ermöglicht, wie Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew kürzlich betonte.

Aus meiner Sicht erweist sich als kontraproduktiv, dass die internationale Gemeinschaft Bergkarabach boykottiert— und die dortige Zivilbevölkerung nicht an Förderprogrammen im Bildungs- und Kultursektor partizipieren lässt. Zudem wird Bergkarabach bereits seit 1997 nicht mehr als eigenständiger Akteur bei Vermittlungsgesprächen beteiligt. Darüber hinaus konnte sich die internationale Staatengemeinschaft nicht auf einen Lieferungsstopp von Kriegsmaterial in ein Spannungsgebiet wie das der Konfliktparteien verständigen. Kritikwürdig und ein Widerspruch in sich ist, dass mit Russland Staat einerseits als Konfliktvermittler tätig ist und andererseits durch Waffenlieferungen eskalierend in den Konflikt um Bergkarabach eingreift.

Botschafter a.D. Hans-Jochen Schmidt, geboren 1947 in Bad Kösen, trat nach dem Jurastudium in das Auswärtige Amt ein. Neben Verwendungen in der Zentrale und einigen Auslandstationen arbeitete er u.a. in Minsk(als Botschafter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 2008/2009) und bis zu seiner Pensionierung als Botschafter in Eriwan (2009-2012). Danach war er als Wahlbeobachter und Lektor für internationale Beziehungen in Armenien und Bergkarabach wiederholt im Einsatz.

Das Interview führte Dr. Julia Gerlach, Studienleiterin „Demokratie, Wirtschaft und Soziales“ der Evangelischen Akademie Sachsen. Für das Jahr 2021 ist eine Wochenendtagung zur Region des Kaukasus in Planung.