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Corona, wir und junge Menschen


24. März 2020

Später. Nachher. Nein, jetzt! – Was die Pandemie für junge Menschen, Familien und Jugendpolitik bedeutet

 

Vertrauen beruht auf Verlässlichkeit. Das betrifft jede Beziehung, also auch Familien, oder jede Bildungssituation. Ein Vertrösten auf „gleich“, „nachher“, „warte noch kurz“ oder „später“ wird ein junger Mensch von den Eltern vielleicht einige wenige Male erdulden. Danach aber nicht mehr, er fordert Präsenz ein.

Ähnlich, womöglich mit einer noch geringeren Toleranzgrenze trifft dies bspw. auf den Schulalltag, in Heimen oder in Jugendclubs zu. Vertrauen und Verlässlichkeit bedeuten auch Zeit haben zu müssen und zu können. Diese großen Werte haben heftige Eingrenzungen in den letzten Tagen erfahren. Drei Perspektiven ragen dabei besonders heraus:

 

Eigentlich woanders, doch plötzlich da

Bei den allermeisten Eltern hatte der Tagesablauf eine feste Größe: die Kinder waren in der Kita, Schule und oftmals anschließend bspw. in einer Sport- oder Musik-AG oder zusammen mit Freund*innen. Das, was dafür zu erledigen und zu organisieren war, war hinzubekommen. Gesorgt war beispielsweise für eine warme Mahlzeit sowie Bildung. Zugleich war die Aufsichtspflicht geklärt, während die meisten Eltern arbeiten.

Wer zurzeit den Blick in die social media richtet, wird sie schnell finden, die häufig ironischen und nicht selten auch ein wenig verzweifelten Beiträge zur geänderten Situation in den Elternhäusern. Die Kinder sind und bleiben zu Hause, sie sind schlichtweg da. Aber die Eltern sehen sich auch woanders gefordert, nämlich im Job. Doch die Kinder fordern Aufmerksamkeit, und zwar jetzt und nicht später. Aus den gleichen Gründen: die Aufsichtspflicht muss gewährleistet sein, das warme Essen will zubereitet sein, die Bildung ebenso unterstützt wie auch eingefordert sein, dass betrifft Zweijährige ebenso wie Siebzehnjährige, nur anders.

Und überhaupt, da wo sich Menschen vermehrt aufhalten, muss in der Folge vermehrt Ordnung gehalten werden. Viele sind schon jetzt auf die naheliegende Frage gekommen: wie schaffen das die Erzieher*innen und Lehrer*innen eigentlich jeden Tag? Wie schaffen sie das, wo wir doch wissen, dass die die Betreuungsschlüssel nicht die besten und die Schulklassen zu den größeren zählen? Sicher, die Frage ist zugespitzt formuliert. Aber sie zeigt deutlich, dass Kinder, ganz gleich ob im Kindesalter oder als Jugendliche Zeit und Raum benötigen. Und zwar deutlich, entschieden, bewusst und wertschätzend.

Und sie weist auch darauf, dass wenn es im Jetzt so nicht ist, die Grundlage für das Später nicht die beste ist. In nur wenigen Tagen haben wir alle sehr deutlich gezeigt bekommen, dass junge Menschen eben nicht nur mal nebenbei mitlaufen oder gar „funktionieren“, sondern das eine gesamte Gesellschaft sich auf sie einstellen muss. Das betrifft die Schulpolitik ebenso wie die Sozialpolitik oder die Arbeitsmarktpolitik. Vielleicht ist dies ein erster Lerneffekt für die „Post-Corona-Zeit“.

 

Eben noch da, plötzlich schwer erreichbar

Nicht nur in Kitas und Schulen haben Fachkräfte viel Energie investiert, Vertrauensverhältnisse aufzubauen. Das betrifft auch die anderen Tageszeiten und somit bspw. die Mitarbeitenden der Evangelischen Jugend, der Hilfen zur Erziehung, der Straßensozialarbeit, der kulturellen Bildung bis hin zu den Beratungsstellen. Die Liste der Arbeitsfelder, die sich hier vor allem aus dem Sozialgesetzbuch ergibt wäre eine längere.

Wie wenig diese im Bewusstsein sind, verdeutlichen auch die letzten Tage. Denn es kamen zwar vor allem Unternehmen aller Art und „Arbeiter“ in den Reden der politischen Verantwortungstragenden vor, aber die sozialen Dienste, beispielsweise Bildungs-, Beratungs- und Hilfsangebote für (nicht nur) für junge Menschen sind anscheinend zunächst nicht Teil des sog. „Schutzschirms“ gewesen und es bedurfte schon jede Menge öffentlichen wie auch politischen Drucks, dies doch zu ändern (entsprechende politische Entscheidungen in dieser laufen Woche vorausgesetzt).

Denn auch hier geht es um Vertrauensbeziehungen, welche die Grundlage für eine qualitative Arbeit sind. Gleichzeitig begegnen die allermeisten Fachkräfte nun trotz der nun anscheinend entstehenden persönlichen wie strukturellen finanziellen Sicherheit den jungen Menschen nicht mehr von Angesicht zu Angesicht. Sie stehen vor der herausfordernden Aufgabe nach Wegen und Methoden zu suchen, mit denen das Erreichen oder das Zusammenarbeiten mit der jungen Generation möglich bleibt.

Die Spannbreite dabei ist enorm: da sind junge Menschen, die sich bereits jetzt im Ehrenamt engagieren und selbst Verantwortung gegenüber Dritten übernehmen. Da sind die offenen Jugendclubs, in denen bewusst nicht immer ein*e Sozialarbeiter*in vor Ort war, die nun aber auch geschlossen sein müssen und somit auch diese wenigen Momente der Begegnungen und Gespräche weggefallen sind.

Und es gibt auch die Kinder und Jugendlichen, die in materiell armen Lebenslagen aufwachsen und zu Hause womöglich auch keinen Computer haben, um sich mal eben auch in die nun wichtigen digitalen Lernwege der Schule einzuloggen, ganz abgesehen von dem Hunger, der sie vielleicht beschäftigt. Wo liegen hier verbindende Elemente und Anknüpfungswege zwischen den Erfahrungen heute und dem, wie wir unsere Gesellschaft weiter ausrichten?

 

Und die jungen Menschen?

Wie so oft fällt auf, dass die konkrete Perspektive der jungen Menschen derzeit nicht ausreichend genug in den Blick fällt. Wo ist deren Stimme? Viele Lösungen werden zunächst systemisch gesucht, was sicherlich auch dem Entscheidungsdruck geschuldet ist. Doch es muss nun auch Schritt für Schritt gelingen, direkt die Perspektive der Kinder und Jugendlichen zu erfahren und darauf zu reagieren.

Denn ihnen wurde in aller Regel auch ein Großteil der täglichen sozialen Begegnungen und Wege genommen, was auch ein – so wird es ja gerne zugeschrieben – ein ständiges „Abhängen“ mit dem Mobiltelefon oder im Internet keinesfalls vollständig ersetzt. Der Verlust des Schulalltages oder der Freizeittätigkeiten sind immens, der Bewegungs- und Begegnungsradius ist reduziert. Ganz abgesehen von den erste bedrückenden Berichten aus den materiell armen Milieus oder dem zu befürchteten Anstieg an häuslicher Gewalt, aufgrund von Unzufriedenheit, Unausgeglichenheit und Stress.

Der Blick auf einen Bildschirm wird auf Dauer die Zeit mit oder die Nähe zum Freundeskreis, zu der Vertrauensperson in der Schule, dem Jugendclub oder der Kirchgemeinde nicht vollständig ersetzen. Was aber bereits jetzt entsteht, ist das Bewusstsein dafür, dass wir als Gesellschaft uns darum bemühen müssen, dass diese ermöglicht werden. Jetzt und auch in Zukunft beispielsweise in neuen digitalen Formen, aber in Zukunft eben auch wieder in einer neuen Verlässlichkeit der tatsächlichen Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit Zeit und nicht aus dem Homeoffice der Fachkräfte heraus.

 

Später vs. jetzt?

Das Corona-Virus ist dabei keine Krise, sondern es ist das, was es ist: eine Pandemie. Diese lenkt unsere Aufmerksamkeit aber auf bestehende Herausforderungen, Missstände, tatsächliche Krisen oder aber auch bekannte positive Erfahrungen und Wissen. Das breite Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe beispielsweise ist nur ein Ausdruck davon, wie wir in unserer Gesellschaft bislang miteinander umgegangen sind, wer oder was uns Geld und Zeit Wert waren.

Immer wieder war erkennbar, was „Effizienz“ in einem Handlungsfeld, in dem Fachkräfte mit jungen Menschen arbeiten, teilweise für schwierige aber auch prekäre Rahmenbedingungen nach sich ziehen. Corona kann die Möglichkeit freisetzen, dass wir miteinander neu über dieses Verständnis von „Effizienz“ nachdenken. Einige jüngere mühsam gefundene Verbesserungen sowohl auf der Landes- als auch auf der Bundesebene sollten keinesfalls wieder rückgängig gemacht werden, sondern sie müssen im Dialog weiterentwickelt werden, neue Staatsschulden hin oder her.

Zwei erste Schritte sind, dass es doch noch zu gelingen scheint, die Soziale Arbeit mit unter den aktuell zu beschließenden „Schutzschirm“ der Bundesregierung aufzunehmen. Oder das einzelnen sächsischen Trägern bereits jetzt die Information vorliegt, dass Stornierungs- und Ausfallkosten nicht negativ veranschlagt werden in der Jahresabrechnung.

In den kommenden Wochen soll an dieser Stelle versucht werden, Einblicke in einzelne Handlungsfelder zu erlangen, darauf zu schauen, unter welchen Rahmenbedingungen entweder die Fachkräfte arbeiten oder Kinder und Jugendliche aufwachsen. Wie gelingt es derzeit in der Straßensozialarbeit junge Menschen zu erreichen? Welche Wege geht die Evangelische Jugendarbeit? Welche Herausforderungen bestehen in der Arbeit in den Heimen? Was können wir lernen über die Arbeitsplatzsituation der Fachkräfte? Wie steht es um die Digitalisierung von Bildungsprozessen? Wie verändern sich die Lebenslagen von sucht- oder gewaltbetroffenen jungen Menschen? Und was für Schlussfolgerungen können wir für die gesellschaftspolitische Bildung aus den aktuellen Wochen ziehen?

Denn trotz all der Herausforderungen, die durch die Corona-Pandemie derzeit entstehen, können wir uns bereits jetzt mit gerade entstehenden neuen und doch auch grundsätzlichen Erfahrungen der Frage nach der zukünftigen Ausrichtung der Kinder- und Jugendpolitik stellen. Nicht später, nicht nachher, sondern jetzt!

Christian Kurzke

 

Sie sind eingeladen, mit Studienleiter Christian Kurzke darüber zu diskutieren oder auch konkrete Hinweise und Anregungen zu senden. Ihre Diskussionsbeiträge können Sie senden an christian.kurzke@ev-akademie-meissen.de (mit Ihrem Einverständnis veröffentlichen wir diese gerne auch [anonym] oder Sie bringen Ihre Gedanken direkt in den Social Media-Kanälen der Evangelischen Akademie mit ein.

Foto: Olya Adamovich/Pixabay

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