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Für eine ansteckungsfähige Kultur


13. Juli 2020

Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer

Von Dr. Kerstin Schimmel

 

In den vergangenen Monaten haben wir über viele verschiedene Themen gesprochen. In unserem vorerst letzten Gespräch möchte ich auf mein eigenes Arbeitsfeld zu sprechen kommen: die Evangelische Akademie Meißen, insbesondere ihren Kulturbereich. Hier ist der Live-Betrieb, unter Corona-Bedingungen, seit Anfang Juni langsam wieder angelaufen. Die Monate davor hatten wir einen Teil unserer Angebote in unterschiedlichen Formaten ins Netz verlegt. Als schaler Nachgeschmack aber bleibt: Wie die Gottesdienste wurde auch dieser Teil kirchlicher Arbeit in Zeiten des Lockdowns als nicht systemrelevant eingestuft. Ist – aus psychologischer Sicht – kulturelle Arbeit für die Menschen wirklich so bedeutungslos?

Dr. Elmer: Für Freud war klar: Alles was die kulturelle Entwicklung fördert, schafft die Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben. Insofern kommt einer Evangelischen Akademie eine besondere Stellung zu: als Ort eines lebendigen Diskurses, gerade wenn die Fliehkräfte innerhalb einer Gesellschaft größer werden, kulturelle Gruppen auseinanderzudriften drohen.

 

Nun gibt es ja eine ganze Reihe kirchlicher und säkularer Bildungsangebote. Welche Rolle kommt da deiner Ansicht nach einer Evangelischen Akademie zu?

In Zeiten schwindender Mitglieder und schwächer werdender normativer Bindung der Kirchen ist solche Arbeit meines Erachtens für diese ein Segen, weil sie den Austausch, auch die Kontroverse, mit kirchenferneren Gruppen nicht scheut. Gerade über Kunst und Literatur werden Zielgruppen erfasst, die andere Angebote nicht annehmen. Der amerikanische Kulturkritiker Morris Berman unterstreicht die Wichtigkeit von solchen Institutionen, die aus einer Position weitgehender Unabhängigkeit heraus der Gesellschaft ein kritisches intellektuelles Potential bewahren und sich nicht in pädagogischen Programmen mit messbarem Outcome erschöpfen. Für die Kirche selbst gibt es hier die Chance, nicht nur eigene Narrative in die Gesellschaft zu bringen, sondern umgekehrt auch aktuelle gesellschaftliche Themen zu erkennen, aufzunehmen und durchaus auch von der Gesellschaft zu lernen.

 

Eine Evangelische Akademie ist für mich Scharnier zwischen Kirche und Gesellschaft, ein „Dritter Ort“, der Freiräume schafft für neue Wahrnehmungen und gemeinsames Denken, Lernen und Handeln auf Augenhöhe. Das setzt Offenheit auf beiden Seiten voraus, um gegenseitiges Lernen zu ermöglichen. Ganz nach dem Motto der Evangelischen Akademien in Deutschland: „Protestantisch. Weltoffen. Streitbar.“ Dabei sind nach Ansicht unseres Dachverbandes nicht nur die Inhalte und die Qualität des Diskurses wichtig, sondern auch der Ort an sich im Sinne eines „guten“ Ortes. Heißt dies nach Corona:  zurück z. B. in den Klosterhof? Oder sollten wir gerade lernen, dass auch das World Wide Web ein „guter“ Ort sein könnte?   

Dr. Elmer: Natürlich macht es aus bildungspsychologischer Sicht Sinn, ein vielfältiges Orchester der Medien und Formate zur Verfügung zu haben – gerade auch, um die nicht gerade kirchenaffine Gruppe der jungen „digital natives“ zu erreichen. Aber eines ist auch klar: Menschen lernen am besten mit allen Sinnen und dann, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht – am besten an inspirierenden Orten, wie in Eurem Klosterhof. Nichts ersetzt den lebendigen Austausch. Der Politologe Ivan Krastev hält deshalb ein gar nicht ironisch gemeintes, starkes Plädoyer für die Kaffeepause: informelle, doch oft effektive Kommunikation, eingebettet in einen konzeptionellen Rahmen.

Wenn neue Wege ausprobiert werden, sollte ja generell gelten: Stolpern auf einigen dieser Wege ist kein Versagen, sondern bedeutet, etwas dazuzulernen. Dazu gehört meines Erachtens auch, Räume zu schaffen, in denen sich auch außerhalb zeitlich begrenzter Tagungen Impulse und Visionen entwickeln können. Hier fallen mir zwei innovative Konzepte ein: das Format Klosterhofschreiber*in, bei dem Schriftstellerinnen und Schriftsteller vier Wochen spirituelle Heimat und Inspiration bei Euch im Klosterhof finden und sich ihrerseits in thematische Diskussionen einmischen; sowie die Künstler*innenwoche, deren vor Ort erarbeitete Ausstellung oft an weitere Orte gezogen ist und andere Künstlerinnen und Künstler motiviert hat, sich ebenfalls mit dem jeweiligen Thema auseinanderzusetzen. Online-Formate können eine kluge Ergänzung Eures Portfolios sein, die Nachhaltigkeit einer Begegnung von Mensch zu Mensch mit genügend Zeit auch für Kaffeepausen erreichen sie aus meiner Sicht aber nicht.

 

Es wäre also wichtig, in all der Vielfalt von Foren, Online-Seminaren, Abendveranstaltungen und Podien gerade auch den Raum für längere Formate wie Tagungen, Künstler*innenwochen usw. weit offen zu halten, damit Ideen und Impulse wirken und sich ausbreiten können?

 Dr. Elmer: Ja, solche längeren Veranstaltungen sind sehr wichtig: Sie schaffen Raum für ein fundierteres „Lernen im Dialog“. Und sie können ansteckend sein – in einem ganz anderen Sinne, als wir es in Pandemiezeiten befürchten. Noch einmal Ivan Krastev: „Ideen sind wie Viren, die das Gegenüber infizieren. Online gibt es keine Infektionen.“ Das finde ich einen guten Schlusssatz für unsere Reihe, die online gegangen ist, aber doch Impulse für den direkten Austausch geben möchte – mit und ohne Maske.

Illustration: Gordon Johnson auf Pixabay

10 Kommentare zu “Für eine ansteckungsfähige Kultur”

  1. Stefan Delorme schrieb am 15.07.2020 um 22:55 Uhr:
    Was soll man nach alldem noch sagen? Jeder der Äußerungen kann ich mich vorbehaltlos anschließen. Die Akademie ist insofern einzigartig, als in ihr die sonst allgegenwärtige Polarität zwischen Verkündenden und Empfangenden, zwischen Lehrenden und Lernenden nicht besteht, zumindest nicht bestehen muss. Nur so, indem jede Seite zugleich gibt und empfängt, entsteht ein wahrhaftiger Dialog, der nicht nur den Titel ziert. Danke, tausendmal Danke für die inspirierenden Gespräche, denen ich folgen durfte. Wenn ich mir etwas wünschen darf, dann, dass es weitergeht, vielleicht auch einmal, sobald die Lage es zulässt, live, in Fleisch und Blut, auf dem steinigen Boden inmitten der Mauern, vielleicht auch mit dem einen oder Anderen Gast. Anderen mag es anders gehen - bei mir ist im digitalen Format die Schwelle, den Finger zu heben, höher, als in einer Live-Diskussion, in der das Plenum fühlbar zur Beteiligung eingeladen ist. Das mag das eine Mal besser gelingen als beim anderen. Seien wir froh, dass wir die digitalen Medien haben - noch vor 10 Jahren hätten wir die Situation nicht annähernd so gut gemeistert, und vieles wäre jämmerlich verkümmert. Dennoch verspüre ich eine Digitalmüdigkeit sich in mir breitmachen, und ich sehne mich wieder nach einer Wirklichkeit zum Anfassen. Und wenn ich noch einen sehnlichen Wunsch äußern darf: Wie u.a. diese Serie zeigt, ist die Akademie ein Schmuckstück - sie muss erhalten bleiben und sich von da, wo sie steht weiter entwickeln dürfen. Sie mag kostspielig sein, aber sie zu opfern, käme einer Selbstamputation gleich und wäre ein Vergehen an einer über Jahre erkämpften Kultur auf höchstem Niveau.
  2. Gundula Sell schrieb am 15.07.2020 um 22:45 Uhr:
    Klar kann man Kunst auch im Internet genießen. Und die Welt ist eine Scheibe ... auf der man sich bewegt, ohne ans Eigentliche zu kommen, wie die Stubenfliege, die das Konzept Fensterscheibe täglich verflucht. Klar ist das Internet eine große Errungenschaft, jenseits aller Filterblasen und Verschwörungshörigen. Klar geht vieles schneller, man überwindet Zeit und Raum, auch jenseits von Corona, und wir wissen schon gar nicht mehr, wie wir das vorher alles ohne Internet hingekriegt haben. Aber echte Menschen in echten Räumen sind doch noch was anderes. Schon echte Bücher sind was anderes! Klar sollen wir weiterhin online/auf Draht bleiben, und für kurze essayistische Dialoge ist das eine gute Form. Aber bei guter Gelegenheit wünsche ich mir doch wieder echte Begegnungen im Klosterhof oder an anderen schönen Stellen. Dann können wir solche anregenden Dialoge auch sich im Entstehen entwickeln sehen und hören!
    • Dr. Kerstin Schimmel schrieb am 16.07.2020 um 14:22 Uhr:
      Zum Glück konnten die echten Begegnungen von Mensch zu Mensch im St. Afra Klosterhof bereits Anfang Juni wieder starten, die Literaturreihe in Dresden Mitte Juni. In der Hoffnung, dass Corona uns lässt, plane ich gerade mit Partnerinnen in Dresden ein Projekt, das dort eine Reihe von kürzeren Formaten mit einer Tagung in Meißen sowie Online-Angeboten verbinden soll - so kann Bewährtes sich klug erneuern, ohne dass es aufgegeben werden muss. Ich hoffe, wir sehen uns im Klosterhof und in Dresden (und vielleicht auch ab und zu digital)!
  3. Else Gold schrieb am 15.07.2020 um 18:56 Uhr:
    Für die anregenden Dialoge der vergangenen Monate danke ich Dr. Kerstin Schimmel und Dr. Olivier Elmer. Ihre erhellenden Einsichten in die Zusammenhänge von Leben und Kunst für die menschliche Gemeinschaft sind mir Bestätigung und Ermunterung. Ihr Plädoyer für den Klosterhof der Evangelischen Akademie Meißen als einen weltoffen und besonderen Ort für die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Herkünfte und verschiedenen Glaubens, schließe ich mich gern an. Das der Klosterhof auch ein guter Ort für die Entstehung von Werken der bildenden Kunst und der Literatur ist, kann ich aus eigenem Erleben bestätigen. Der lebendige Austausch der Künstler*innen untereinander und der Austausch mit anderen Gästen des Klosterhofes und den Besucher*innen war von inspirierender Intensität, geprägt von ansteckender Erkenntnisfreude - die auch bei den Kaffeepausen auf dem Klosterhof der Evangelischen Akademie Meißen und ganz im Sinne einer ansteckungsfähigen Kultur.
  4. Carola Wieners schrieb am 15.07.2020 um 09:52 Uhr:
    Alles hat seine Zeit, aber einige Dinge sollten doch etwas länger als lang dauern. Warum setzt Ihr Eure Dialoge in hoffentlich bald wieder virenfreien Zeitenwenden nicht einfach fort. Ich würde es aus eigener Erfahrung heraus sehr bedauern, wenn die direkte, eben auch physische Kommunikation und Begegnung auf den holprig-schrägen Klosterhof, wo ein Stolpern vorprogrammiert ist, keine Chance mehr hätte. Aus dem Gleichgewicht zu geraten, sich zu fragen, wo oben und unten ist, welche Perspektiven möglich sind, das alles bringt eine nicht zu unterschätzende Freiheit mit sich - welche, wie wir nicht erst seit Covid19 wissen, ebenfalls neu diskutiert werden sollte. Und wo könnte solch Diskurs friedlicher stattfinden als auf dem steinigen Boden der Eangelischen Akademie!!!
  5. Hans-Christian Trepte schrieb am 14.07.2020 um 17:22 Uhr:
    Mir wird der offene, inspirierende, bereichernde Austausch zweifelsohne fehlen, deshalb möchte auch ich mich für eine Fortführung der spannenden Dialogreihe - u.a. als öffentliches Forum - aussprechenen. Als Literaturwissenschaftler darf ich an die schlichte, unprätentiöse Macht von Kunst, Kultur und Literatur erinnern, die die Mächtigen ganz zu Recht fürchten, denn sie sind in der Lage unterscheidliche Menschen, unabhängig von sprachlicher, religiöser Zugehörigkeit und politischen Einstellung anzusprechen, zu berühren und im positiven Sinne anzustecken. In dieser Hinsicht kommt den Evangelischen Akademien im Osten Deutschlands eine besondere Verantwortung zu. Zwangsläufig setzt das voraus, dass Kultur und Literatur mit entprechendem Weitblick auch als "systemrelevant" anerkannt und gefördert werden. Dabei gilt es Altbewährtes mit Neuem, Interessanten zu verbinden, nicht zuletzt mit dem Ziel neue, vor allem auch junge Menschen zu erreichen. Mit Weitsicht gilt es allgemein Menschlichem, Kulturgeschichtlichem, Kunst und Literatur entsprechende Prioritäten einzuräumen. In diesem Zusammenhang sei an den Zuspruch erinnert, den die Evangelische Kirche in der DDR, vor allem in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989/1990 als Ort des freien, demokratischen Meinungsausstausches mit einem breiten Spektrum von unterschiedlichen Themen und Problemen erfahren hat. Dieses Bedüfnis nach Dialog und Austausch besteht in zunehmndem Maße auch in unserer unsicheren, von Populismus, Verschwörungstheorien, Nationalimus und Fremdenfeindlichkeit geprägten Zeit. Kultur, Literatur und Musik vermögen nicht nur Trost zu spenden, sondern auch zu helfen, zu einer demokratischen Diskurskultur beizutragen und nicht zuletzt auch zu erbauen. Neben Offenheit und Ehrlichkeit kommt dem Erlebnis einer verbindenden Gemeinschaft im engen Zusamenspiel mit einem einmaligen Ort, der wie der Meißner Klosterhof über eine besondere Aura und wohltuende Atmosphäre verfügt, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Menschen kommen sicher wegen spannender, sie ansprechender Themen und Aktivitäten, aber auch wegen der einmaligen Atmoshäre immer wieder gerne hierher zurück, erkennen sie doch in diesem Genius loci und den mit ihm eng verbundenen liebenswerten Menschen eine Heimstatt in einer zunehmend unsicher und undurchschaubar werdenden Welt.
  6. Sandra Miriam Schneider schrieb am 14.07.2020 um 12:47 Uhr:
    Ach, wie schade, dass die dialoge erst einmal zu ende sind... ich habe sie sehr genossen und fand sie ungeheuer inspirierend. In jedem dialog und bei jedem thema habe ich neues erfahren und mich "anstecken" lassen von klugen fragen und klugen antworten, die immer raum geöffnet haben. Und ich habe gemerkt, dass ich den wunderbaren DIREKTEN konkreten akademie-raum, klosterhof bis hin zur kapelle immer "mit-gedacht" habe, wenn ich die dialoge gelesen habe. So war der analoge raum auch immer präsent. Vielen dank für diese tolle reihe und ich wünsche mir sehr eine fortsetzung, über deren erscheinen ich per mail informiert werde
  7. Kerstin Hensel schrieb am 14.07.2020 um 10:13 Uhr:
    Ja, Eure online-Dialoge waren allesamt sehr beflügelnd und mehr als nur eine Notlösung in unserer Körper-Abstands-Zeit! Ich finde, man sollte diese Dialoge zukünftig auch ab und zu live (und damit ausführlicher) erleben und öffentlich mitdiskutieren dürfen. Natürlich im Klosterhof, incl. Kaffee- und Meißner-Wein-Pausen. Ebenfalls finde ich die Idee einer 4wöchigen Klosterhofschreiberstelle sehr gut. Auf zu neuen Taten!
  8. Constanze John schrieb am 13.07.2020 um 22:02 Uhr:
    Momentan können wir so viel lernen, wenn wir nicht allein um uns selbst kreisen. Ich schätze diese Dialoge zwischen Euch sehr. Es ergeben sich Impulse zum Weiterdenken. Die technischen Medien zeigen sich als Geschenke in solch einer Zeit und gerade die Kinder und Jugendlichen sind es, die ganz klar die Sehnsucht nach menschlicher Nähe formulieren. Und das ist wirkliche, tiefe Sehnsucht. Selbst den Lehrer möchten sie nicht nur an einem Bildschirm sehen, erst recht die nächsten Freunde. Alles hat seine Zeit. Wir wissen es. Danke.
  9. Sylvia Eggert schrieb am 13.07.2020 um 21:01 Uhr:
    Ich fand die Reihe der Dialoge zwischen Kerstin Schimmel und Dr. Olivier Elmer ausgesprochen inspirierend und anregend und bedanke mich für die klugen Denkanstöße im virtuellen Format. Aus eigener Erfahrung kann ich jedoch nur bestätigen, dass solche Dialoge im Netz zwar bereichern, dass sie den direkten persönlichen Austausch und das Miteinander von Mensch zu Mensch nicht ersetzen können. Glücklicherweise. Und den Ort Klosterhof der Evangelischen Akademie, der auch für mich als nicht konfessionell gebundenen Menschen wieder und wieder ein spiritueller Ort der Be-Sinnung und das Kraft- und Ideentankens ist.

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