„Ins Offene!“ – Reisen zwischen Sammlung und Zerstreuung
22. Juni 2020
Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer
Von Dr. Kerstin Schimmel
Grenzen öffnen sich wieder, die Tourismusbranche atmet auf, viele Menschen freuen sich darauf, endlich wieder in Urlaub fahren zu können. Vom Philosophen Blaise Pascal stammt jedoch der Satz: „Das ganze Unglück des Menschen rührt nur von seiner Unfähigkeit, ruhig in seinem Zimmer zu bleiben“. Wie sieht der Psychologe das?
Dr. Elmer: Ich halte es da eher mit dem Reiseschriftsteller Bruce Chatwin. Der meinte, ohne Veränderung durch das Reisen verkümmerten Hirn und Körper. Evolutionsbiologisch ist der Mensch wahrscheinlich nicht als Stubenhocker angelegt. Für die Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, die ja schon in der Akademie Dein Gast war, gehört eine Poesie der Unruhe zum Menschsein, eine produktive Unrast, die sich im Reisen manifestiert.
Gibt es denn empirische Studien zu den Beweggründen des Reisens?
Dr. Elmer: Die Psychologin Martina Zschocke hat in einer Untersuchung dominierende Motive für Reisen gefunden: Distanz zum Alltag, Flucht aus einer allzu vertrauten Umgebung und alltäglichen Routinen sowie Abstand von den Notwendigkeiten des Alltags. Die Sehnsucht nach Freiheit und Unbeschwertheit spielte ebenfalls eine Rolle wie auch der Wunsch, neue Perspektiven auf eigene Probleme zu gewinnen. Aber auch die Faszination für bestimmte Landschaften und Städte sowie der Wunsch, andere Kulturen kennenzulernen, spielten eine Rolle.
Aber der All-inclusive-Urlaub auf „Malle“ unterscheidet sich doch sehr von der Bildungsreise des 18. Jahrhunderts …
Dr. Elmer: Das vom aufklärerischen Bildungsideal getragene Reisen einiger Privilegierter war über Jahrhunderte Triebfeder, Unbekanntes zu entdecken. Der moderne Tourismus setzte erst im späten 19. Jahrhundert ein, zunächst im Großbürgertum. Als breitere Kreise sich Reisen leisten konnten, wollte man Ferien von bürgerlichen Zwängen, von starren Gewohnheiten und Unterordnung, erträumte sich auch Paradiese – von denen der All-inclusive-Urlaub der etwas fade Abklatsch ist. Doch selbst da spiegeln sich noch die Motive von Freiheit und Entdeckerlust – wenn es auch ein sehr ferner Spiegel ist. Studienreisen mit kulturellen Schwerpunkten, wie Du sie für die Evangelische Akademie durchführst, sind näher an den klassischen Motiven der Aufklärung, zumal wenn sie Begegnungen erlauben – aber eben auf eine geplante, Sicherheit vermittelnde Art.
Was muss aus psychologischer Sicht denn passieren, damit eine Reise als gelungen erlebt wird?
Dr. Elmer: Die Studie von Zschocke hat hier immer wiederkehrende Faktoren gefunden: Vielschichtigkeit, etwa durch die Kombination aus Natur und Kultur; Kontrastreichtum, intensive Kontakte, die Reiselänge, Gastfreundschaft, eine offene Atmosphäre und Orte mit persönlicher oder symbolischer Bedeutung. Darüber hinaus spricht viel dafür, dass wir profitieren, wenn wir nicht alle Gewohnheiten mitnehmen – unsere Dienstmails mal eben schnell zu checken, beispielsweise. Auch der Vor- und Nachbereitung einer Reise kommt eine wichtige Funktion zu, weil dies hilft, die Reise in Kopf und Herz zu verankern und die Reisezeit über die tatsächliche Reisedauer hinaus auszudehnen.
Der Philosoph Peter Vollbrecht meint, Reisen könne man auch als eine Art Versprechen auf ein noch nicht gelebtes Leben verstehen. Als Mittel, um im Unterwegsein unsere unentdeckten Möglichkeiten zu erkunden.
Doch kann Reisen nicht auch dazu dienen, von sich selbst abzulenken?
Dr. Elmer: Ständig neue Reize auf programmatisch dicht gedrängten Reisen können diese Funktion haben. Hier hilft, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, zu entschleunigen. Sich nicht von Sightseeing-Listen unter Druck setzen zu lassen, sondern lieber Ausgewähltes intensiver kennenzulernen. Eine Reise sollte kein Schaufensterbummel sein. Ich brauche die Muße, mich auch einmal an einem Ufer, in einer Kirche oder einem Tempel still hinzusetzen und die Umgebung auf mich wirken zu lassen, etwas in mich einströmen zu lassen. Oder in einem Café bei einer langsam getrunkenen Tasse Kaffee Menschen zu beobachten. Mich quasi ziellos dem Strom der Stadt als Flaneur hinzugeben. Und es kann gewinnbringend sein, eine Region auch tiefer zu erkunden, indem ich ein weiteres Mal hinfahre statt etwas Neues auf meiner Länder-Liste „abzuhaken“.
Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa hingegen meinte, Existieren sei schon Reisen genug – man müsse sich den Sonnenuntergang nicht in Konstantinopel ansehen.
Dr. Elmer: Pessoa hatte ja auch – wie eine literarische Multiple Persönlichkeit – gleich mehrere poetische Figuren zur Verfügung, unter denen er ganz unterschiedlich schrieb. Und Kant ist bekanntlich über Königsberg kaum hinausgekommen – und hat dennoch die Philosophie revolutioniert. Doch die wenigsten Menschen verfügen wohl über eine derart vielschichtige, kontrastreiche innere Welt, so dass die Reisen ins Innere alle anderen ersetzen. Psychologisch glaube ich eher, dass es gewöhnlichen Menschen wie mir guttut, mir nicht ständig selbst zu begegnen. Zu starke Einkehr nach innen führt doch meist zu seelischem Ungleichgewicht. Wenn ich allerdings das Reisen als Begegnung nutzen möchte, muss ich offen sein für Neues – sonst fahre ich mit den gleichen, vorgeblich bestätigten, Vorurteilen wieder nach Hause. Wir sind ja im Hölderlin-Jahr – und bei ihm heißt es: „Komm! ins Offene, Freund! -… Wie das Herz es wünscht, offen, dem Geiste gemäß.“
Offen für Neues und achtsam den Mitmenschen gegenüber – nicht nur in Zeiten von Corona. Gute Reise!
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