„Jenseits des Dazwischen“: Schreiben in fremder Sprache – Teil I
2. Juli 2020
Dr. Kerstin Schimmel im Gespräch mit Dr. Hans-Christian Trepte
Am 3. Juli beginnt, dank Corona streng geteilt in einzelne kleine Gruppen, die Meißner Schreibwerkstatt 2020. Da schreiben wir alle in unserer Muttersprache Deutsch, wie uns er Schnabel gewachsen ist. Über kulturelle Codes, regionale Fettnäpfchen und doppeldeutige Wörter und Formulierungen müssen wir nicht nachdenken. Wir können virtuos damit spielen, aber Kopfzerbrechen bereiten diese Feinheiten uns nicht. Die Muttersprache gehört zu unserer Identität. Von klein auf an geübt, gibt sie uns Sicherheit weit über das gesprochene oder geschrieben Wort hinaus. Nun gibt es aber auch viele, und in der Zahl wachsende, Schreibende, die – freiwillig oder erzwungenermaßen – nicht in ihrer Muttersprache schreiben wollen oder können. Abgesehen davon, dass ich Hochachtung vor diesen Menschen habe, stellen sich für mich dazu viele Fragen, z.B.: funktioniert das aus poetologischer Sicht überhaupt und was macht das mit der jeweiligen Identität?
Die deutsche Literatur hat sich in den letzten Jahren stark verändert, so dass wir korrekter Weise heute auch in Deutschland von einer deutschsprachigen Literatur, analog zur anglo- oder frankophonen sprechen können. Immer mehr Autoren nichtdeutscher Herkunft rücken von den Rändern in die Mitte des „literarischen Felds“ (Pierre Bourdieu) vor und bestimmen es entscheidend mit. Zu überdenken ist des Weiteren auch der Begriff der „Muttersprache“, zum einen, weil es zwangsläufig auch eine „Vatersprache“ gibt und der wissenschaftliche Terminus Erstsprache bzw. „native language“ lauten sollte.
Kulturelle Codes (Roland Barthes) sind eng mit der Sprache bzw. dem jeweiligen Sprachraum verbunden; sie werden mit der Erstsprache im Zug der Sozialisation erworben, sie können aber auch als Zweit- oder Drittsprache erlernt werden. Allerdings befindet sich die durch einen freiwilligen bzw. erzwungenen Sprachwechsel entstehende Literatur nicht selten im Niemandsland zwischen den Literaturen. Ihre Vertreter*innen erhalten oft wenig goutierte Zuschreibungen wie „Ausländerliteratur“, „(E)Migrationsliteratur“, oder sie landen in Schubladen, z.B. mit der Aufschrift „deutschsprachige Autoren mit Migrationshintergrund“, aus der sie oft nur schwerlich wieder herauskommen können.
Dabei gibt es durchaus gewisse Konstanten in der klassischen Exil- bzw. (E)Migrationsliteratur: die Sprache, der Sprach- und Codewechsel, Probleme der Identität, der Leserbezug, die Fremdheitserfahrung und Fragen des Heimatbezugs. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass wir historisch gesehen auch in Deutschland von mehrsprachigen Autoren und Minderheitenliteraturen sprechen können. In Sachsen und Brandenburg haben wir die sorbische Literatur, deren Repräsentanten nicht nur zweisprachig sind, sondern zumeist auch in zwei Sprachen schreiben.
Die Frage nach der Poetologie ist eine komplizierte. Zweifelsohne ist der Umgang mit Sprache bei Autor*innen, die von Kindheit an die Sprache erworben haben eine anderer als bei denjenigen, die die fremde Sprache erst einmal erlernen mussten. Hinzu kommen Schriftsteller, die der deutschen Minderheiten angehörten und Besonderheiten, Nuancen, Aromen ihrer mitgebrachten deutschen Sprache in die Literatur mit einbringen wie beispielsweise die aus Rumänien kommende Nobelpreisträgerin Herta Müller. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die komplizierte deutsch-jüdische Problematik.
Der Umgang mit Sprache ist bei allen erwähnten Vertretergruppen recht unterschiedlich. Mit Kulturcodes, sprachlichen Besonderheiten und Feinheiten, Ausdruck und Stil gehen jene Schriftsteller*innen, die eine „Fremdsprache“ zu ihren Schreibsprache gemacht haben, ganz anders, zumeist auch weitaus sorgfältiger, nachfragender, exakter um. Zugleich bringen sie viel Neues, Kreatives, Ungewohntes, auch Provozierendes ein. Vieles davon wird aus der anderen Sprache, Geschichte, Kultur, Literatur bereichernd in die literarischen Texte eingeschrieben.
Teil II folgt hier am 9. Juli.
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