„Kann das weg?“ – Über Kunst als Lebensmittel
18. Mai 2020
Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer
Von Dr. Kerstin Schimmel
Bundespräsident Steinmeier hat kürzlich in einer Rede von der Kultur als einem Lebensmittel gesprochen. Im Augenblick scheint in den Diskussionen um Schutzschirme und Lockerungen vieles andere im Vordergrund. Sind Baumärkte und Biergärten wichtiger als beispielsweise die Kunst, die ja einen wichtigen Bereich der Kultur darstellt? In diesem Zusammenhang interessiert mich, welchen Stellenwert der Kunst aus psychologischer Sicht zukommt!
Dr. Olivier Elmer: Die bekannteste Hierarchie menschlicher Bedürfnisse ist die Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow. Sie geht davon aus, dass zunächst die existenziellsten physiologischen Bedürfnisse der untersten Stufe erfüllt sein müssen, bis andere Stufen wie Sicherheit, soziale und individuelle Bedürfnisse und schließlich Selbstverwirklichung bedeutsam werden. Interessant ist, das Maslow in seinen späten Jahren ästhetische Bedürfnisse in sein Modell integriert hat. Und das ist auch nur konsequent: bereits Darwin hat darauf verwiesen, dass schon bei Tieren ein „Sinn für das Schöne“ zu beobachten sei. Und in der kulturpsychologischen Analyse können wir feststellen, dass die Entwicklung komplexer Gesellschaften mit großem Engagement im Bereich künstlerischer Produktion einhergeht.
In meinem Beruf habe ich viel mit Künstlerinnen und Künstlern zu tun. Mich beeindruckt deren kreatives Potential. Gibt es denn aus psychologischer Sicht hierfür disponierende Faktoren?
Dr. Olivier Elmer: Viele Künstlerinnen und Künstler stammen aus einer kunstaffinen Familie. Das ist z.B. von Albrecht Dürer oder Paul Klee bekannt. Auch wichtige Lebensereignisse werden oft künstlerisch verarbeitet. Günther Uecker beispielsweise berichtet, dass seine Nagel-Kunstwerke mit einem Erlebnis bei Kriegsende zusammenhängen, als seine Familie ihr Haus aus Angst vor der sowjetischen Armee tatsächlich vernagelte. Die frühe Beschäftigung mit Kunst scheint ebenfalls ein wesentlicher Punkt zu sein. Ich war gefesselt von Picassos Jugendzeichnungen, die in Barcelona ausgestellt sind. Die frühe Beschäftigung mit Kunst führt dazu, dass neuronale Muster im Gehirn sich festigen, die eine Rolle im kreativen Prozess spielen. Auch scheinen linkshändig geprägte Menschen kunstaffiner zu sein, weil die rechte Hirnhälfte für Visualisierung und Intuition wichtig ist.
Ich möchte jetzt nicht das Klischee der Nähe von Genie und Wahnsinn bemühen. Doch gibt es einen Zusammenhang von psychischen Auffälligkeiten und künstlerischer Kreativität?
Dr. Olivier Elmer: Edvard Munch, Wassily Kandinsky und viele andere Kreative haben an Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen gelitten. Doch es ist ein Irrtum zu glauben, große künstlerische Kreativität müsse quasi durch eine psychische Erkrankung erkauft werden. Was aber sicherlich stimmt, ist, dass ein eigenwilliger Denkstil und die unbedingte Hingabe sowie auch narzisstische Persönlichkeitszüge und Risikobereitschaft oft mit künstlerischer Selbstverwirklichung verbunden sind. Darauf verweist die Psychologin Irene Daum. Der künstlerische Prozess wird ja auch oft als herausgehoben beschrieben: es scheint so, dass es oft aus dem Künstler oder der Künstlerin „herausströmt“, ohne bewusste kognitive Kontrolle. Doch irgendwann, der Maler Markus Lüpertz beschreibt das etwa, ist ganz klar, dass etwas „fertig“ ist.
Das klingt nach einer ziemlichen Eigenweltlichkeit. Aber Kunst ist doch auch ein kommunikativer Prozess!
Dr. Olivier Elmer: Ja, und Künstlerinnen und Künstler sind häufig besonders sensibel in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Prozesse. Sie legen ihre Finger oft früher in Wunden, als die sie umgebende Gesellschaft es will und vielleicht auch kann. Das muss nicht mit heiligem Ernst geschehen: Wenn ein Künstler wie Sakir Gökcebag Installationen mit Hygieneartikeln auf Instagram postet, dann bricht er ironisch das Horten von Toilettenpapier in der Corona-Krise und nutzt gleichzeitig ein Medium, das auch in eine Quarantäne hineingelangt. Das gerade einem Krankenhaus geschenkte Bild des Streetart-Künstlers Banksy zeigt einen Jungen, der mit einer Krankenschwester als Puppe spielt. Das ist zwar eine Hommage an die englischen Pflegerinnen, aber natürlich auch augenzwinkernd und mehrschichtig deutbar. Auf jeden Fall aber kommt es zu einem Dialog zwischen Kunstwerk und Betrachtenden: Die inneren Prozesse der Künstlerin oder des Künstlers spiegeln sich im Kunstwerk und führen in der Betrachtung auf der anderen Seite zu einer Resonanz.
Das heißt, der künstlerische Dialog basiert auch auf Empathie der betrachtenden Person. Stimuliert er auch etwas?
Dr. Olivier Elmer: Die Beschäftigung mit Kunst kann dazu führen, dass der oder die Betrachtende selbst kreativer wird, weniger eingleisig denkt. Kunstgenuss ist ja nicht passive Rezeption. Deshalb spielt Kunst auch in der Organisationspsychologie eine zunehmende Rolle. Denn sie stimuliert die Fähigkeit, ausgetretene Pfade zu verlassen, die Perspektive zu wechseln, sich neue Dimensionen zu erschließen. Und das sind alles Fähigkeiten, die wir zur Bewältigung der gegenwärtigen Krise dringend benötigen.
Kurzum: Kunst ist aus psychologischer Sicht kein überflüssiger Luxus, kein Dekor oder Zierrat – sondern, da bin ich ganz beim Bundespräsidenten, ein Mittel zum Leben – zum gelingenden Leben! Und in Krisen ist sie auch ein Mittel zum Überleben, Proviant für den Notfall. Aus vielen Erzählungen ist bekannt, wie Menschen in Situationen ohnmächtig erlebter Entmenschlichung ihre Würde und Autonomie wahren, indem sie mit den primitivsten Mitteln Kunst schaffen. Insofern ist Kunst ein antivirales Mittel – gegen das Virus der Ohnmacht. Und wer Kunst und Kultur als etwas betrachtet, das vielleicht „nice to have“ ist, hat etwas grundlegend nicht verstanden. Das ist eine Haltung, die sich rächen wird.
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