Minuten bei Gott – Schrei nach Gerechtigkeit
3. Juni 2020
Von Stephan Bickhardt
Gott,
du bist Geist der Kraft,
wenn ich schweige und kraftlos bin,
wenn ich weine oder schreie.
Du bist Geist der Kraft,
wo noch gesprochen wird über Schwieriges,
wo helle Freude und Liebe herrschen.
Du bist Geist der Kraft,
wie die Vögel uns singen und
die Ufer uns halten.
Du bist Geist der Kraft,
mit den Schreienden und den Hörenden,
dass wir drin die Stimme der Gerechtigkeit
aufnehmen,
deine.
Du gewährst Schutz.
Amen.
Vom Schrei der Elenden
Der Jugendliche geht aus dem Haus. Zuvor hatte er erspartes Geld an sich genommen. Er steuert eine Buchhandlung an. Halb Kind noch und längst nicht erwachsen beginnt er zu stöbern. An dem Bildband von Edvard Munch, Graphik, bleiben seine Augen. Schon dieses Titelbild: eine junge Frau abgewandt von einem jungen Mann blickt über das Meer. Der Adoleszente kauft schnell entschlossen das Buch und wenig später ist er tief erschüttert. Er sieht das Bildnis „Geschrei“, später nur „Der Schrei“ genannt. Seine Seele bebt. Wer schreit hier, ein Mensch, eine Frau? Schreit nicht gar die ganze Landschaft? Denn die Wellen des Entsetzens fahren fort in den Wolken, auf Feldern und am Ufer eines Fjords. Schmerz und Entsetzen sind nicht nur in der Seele, sie sind Weltereignis. Elend kommt über den Menschen, nicht nur aus ihm, aus ihr selbst heraus. Der Jugendliche ist mitgerissen und sieht und versteht, der Schrei aus tiefer Not kann auch Schrei der Schöpfung und anderer Geschöpfe sein. Sein Leben wird sich von Grund auf ändern.
An diese Erzählung eines inzwischen Erwachsenen denke ich sofort beim Lesen der heutigen Losung aus dem Psalm 34,16: DIE AUGEN DES HERRN MERKEN AUF DEN GERECHTEN UND SEINE OHREN AUF IHR SCHREIEN. Gerechte werden die genannt, die schreien im Elend. Gerechtigkeit ist eben nicht allein in der Dimension von Tat und Leistung zu verstehen. In Gottes Augenmerk auf uns Menschen genügt schon der Schrei. Bestimmt nicht jeder Schrei oder das Schreien von Mutmaßenden in puncto Verschwörung im Netz und auf der Straße heutzutage sind hier gemeint. Es sind die Schreie der Menschen gemeint, die um das Leben ringen. Und wer um das Leben und Überleben ringt, ist nach Gottes Willen eine Gerechte, ein Gerechter. Darum nehmen Menschen Anteil, die anderen helfen: Brot in die Welt tragen, Flüchtlingen ein leidliches Leben ermöglichen, Alten und Kindern helfen, wenn die Seele wund ist in Einsamkeit und Liebesnot.
Der norwegische Maler Munch hat vier Fassungen von „Der Schrei“ gemalt. Und es wird berichtet, dass er Jahre an ihnen arbeitete. Er selbst schreibt, er habe bei einem Spaziergang am Oslofjord ein solches Erlebnis durchlitten, die tiefe Berührung, geschaffen und in bloßer Existenznot zu sein. Sein Bildnis der weiten Augen und des offenen Mundes gipfelt in den offensichtlich spontan hoch gerissen Händen, mit denen wenigstens die Ohren zugehalten werden. Eine erste Linderung innerer Not. Welchen Geist spürt der Betrachtende? Es ist die tiefe Sehnsucht, dass andere hören, was mein Schrei doch ist. Es ist die tiefe Sehnsucht aus der Beugung herauszutreten, der Beugung des Friedens und des Rechtes für den Menschen. Von Friedenssuche wird zuvor im Psalm gesprochen. Der Geist des Friedens fügt zusammen: den Wunsch nach innerem Frieden und Einverstehen mit Gott und den Schrei nach Gerechtigkeit aus dem Mund der Elenden.