Moral in Zeiten der Krise: Das gewisse Etwas des Gewissens
20. April 2020
Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer
Von Dr. Kerstin Schimmel
Seit Wochen befinden wir uns im „Lockdown“. Viele hatten darauf gehofft, dass Bund und Länder wieder mehr Freizügigkeit zulassen. Doch die Einschränkungen, die mit der Corona-Epidemie einhergehen, werden nur langsam gelockert. Bisher halten sich die Bürgerinnen und Bürger daran. Wie lange kann das klappen?
Dr. Olivier Elmer: Bisher haben die Maßnahmen ja eine erstaunliche Akzeptanz gefunden. Aber damit notwendige Regeln wie Kontaktbeschränkungen weiterhin eingehalten werden, müssen aus psychologischer Sicht verschiedene Bedingungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Maßnahmen stringent erfolgen, es darf also kein „vor und zurück“ stattfinden; und die langfristige Perspektive muss klar sein. Insofern ist es gut, lieber langsam zu lockern. Zum anderen müssen die Begründungen nachvollziehbar sein. Das ist gegenwärtig noch der Fall, da viele Expertinnen und Experten die Vereinbarungen mit rationalen Argumenten unterstützen. Aber es kommt auch noch Moral ins Spiel.
Inwiefern das? Mit Moral wird ja oft „moralinsauer“ assoziiert…
Dr. Olivier Elmer: Das persönliche Gewissen ist aber eine ganz entscheidende Größe. Denn das Risiko etwa bei Verletzungen der Abstandsregeln ist ja eher abstrakt. Wir müssen uns also sagen, dass wir etwas für die Gemeinschaft oder für Schwächere tun. So, wie es im Babylonischen Talmud steht: „Jeder einzelne soll sich sagen: Für mich ist die Welt geschaffen, darum bin ich mitverantwortlich.“
Das klingt nach hehrer Ethik – ist das realistisch?
Dr. Olivier Elmer: Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass nur ein geringerer Teil der Menschen universelle ethische Prinzipien fest verinnerlicht hat. Gott sei Dank sind Menschen aber auch entwicklungsfähig, und vielleicht liegt in der gegenwärtigen Krise auch die Chance, Gemeinwohl als Wert wieder stärker zu verankern. Voraussetzung für eine solche Entwicklung sind nicht so sehr Sanktionen. Aus der Lernpsychologie ist bekannt, dass diese nicht sehr nachhaltig wirken.
Aus der Pädagogik weiß ich, dass positive Verstärkung am besten wirkt. Aber die Belohnungen sind ja in diesem Fall nicht direkt spürbar. Was also hilft stattdessen?
Dr. Olivier Elmer: Glaubwürdige Vorbilder. Da ist es natürlich wenig hilfreich, wenn der Bundesgesundheitsminister sich mit anderen wichtigen Menschen in einen Aufzug drängt und dabei fotografiert wird …
Werte entstehen ja nicht im luftleeren Raum. Welche Rolle spielen kulturelle Prägungen?
Dr. Olivier Elmer: Eine wichtige. So finden wir in asiatischen Ländern traditionell einen höheren Stellenwert des Kollektivs – in westlichen Ländern hingegen wird die Autonomie des Einzelnen betont. Wir sehen das an einfachen Beispielen: das Maskentragen ist in Asien seit langem breit akzeptiert. Im Westen ist das ungewöhnlich – weil das Individuum dahinter verschwindet. Deswegen versuchen sich viele Menschen bei uns an individuell gestalteten Masken.
In östlichen Traditionen spielt die Rolle von Autoritäten aber auch eine größere Rolle.
Dr. Olivier Elmer: In der konfuzianischen Tradition werden Regeln, die autoritär gesetzt werden, eher akzeptiert als bei uns. Das muss aber für unsere Gesellschaft kein Nachteil sein. Denn Werte, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft verinnerlicht werden und nicht nur durch sozialen Druck zustande kommen, haben eher Bestand. Man könnte sagen: Gemeinsinn und Eigensinn haben in unserer Gesellschaft die Chance, sich zu verbünden.