Artikel: „Seid ihr bereit?“ – Literatur und Bildungsarbeit
30. Januar 2023
„Seid ihr bereit?“
Literatur und Bildungsarbeit
ein Artikel von Dr. Kerstin Schimmel, Studienleiterin Kultur der Evangelischen Akademie Sachsen
Seien wir ehrlich, nicht wenigen bricht bei dem Wort Literatur der kalte Angstschweiß aus, der Stresspegel steigt in düsterer Erinnerung an über 600 Seiten Buddenbrooks von Thomas Mann oder Theodor Fontanes Effi Briest mit über 300 Seiten Kleindruck, davon allein 60 Seiten Anmerkungen. Und wen hat Die Mutter von Maxim Gorki in jungen Jahren mitgerissen und voller Begeisterung in unbekannte Welten entführt?
Vom richtigen Augenblick
Wie für viele Dinge im Leben gibt es auch für Romane, Lyrik, Essays gute und weniger gute Augenblicke. Ein kluger Text zur falschen Zeit kann aus der Lust am Lesen Frust machen und zur nachhaltigen Abkehr von der Lektüre führen. Engagierte Lehrende wissen das und wählen klug, indem sie auf die jeweiligen Bedürfnisse schauen. Das heißt nicht, die guten alten Klassiker zu meiden und an ihre Stelle Mainstream-Literatur zu setzen. Es heißt vielmehr für Verbindungen zu sorgen, den Leserinnen und Lesern Angebote zu machen, an die sich in welcher Form auch immer anknüpfen lässt. Dabei muss es nicht um Zustimmung gehen oder die Bestärkung von Vertrautem. Es kann im Gegenteil sehr inspirierend sein, dem Bekannten völlig Fremdes gegenüberzustellen beziehungsweise das vermeintlich Vertraute sukzessive in einem anderen Licht erscheinen zu lassen, es aus einer ungewohnten Perspektive zu beleuchten, so, wie es beispielsweise Sven Pfizenmaier in Draußen feiern die Leute tut. Vordergründig geht es um ein ganz normales Dorf in Deutschland, eine Gruppe Jugendlicher und das traditionelle Dorffest, alles wie erwartet, würden sich nicht in kleinen, lakonischen Nebensätzen Brechungen einschleichen, die man zu Beginn fast überliest: Nicht der Marktplatz bestimmt das Zentrum, sondern der Kreisel, der in alle Richtungen aus dem Dorf führt; nicht die Kirche ist Erwähnung wert, sondern die Volksbank, und in das Gasthaus Zum Strick geht man nur, wenn alles andere zu hat. Das Leben der Jugendlichen spielt sich am Rande ab: Am Rande des Dorfes, der Schule und sogar am Rande des Festes. Was man vom Dorfleben erwartet, wird beschrieben, aus der Perspektive der Jugendlichen aber zunehmend in einen anderen Kontext versetzt, so dass das Verschwinden junger Menschen lange nicht als besorgniserregend wahrgenommen wird und Leserinnen und Leser erst spät bemerken, wie unvertraut ihnen dieses vertraute Dorf eigentlich ist.
Was kann Literatur?
Geschichten zu erzählen, ist uns Menschen eigen. Gemeinsame Geschichten zu haben, ist bedeutungsvoll für den Zusammenhalt von Gesellschaften, sie können aber auch in bestimmten Narrativen, wie sie beispielsweise zu Zeiten von Corona oder im Krieg gegen die Ukraine identifizierbar sind, zu Spaltungen führen, ausgrenzen und sogar zerstören. Sie können – im Guten wie im Schlechten – viele Menschen bewegen, Generationen prägen.
Harriet Beecher-Stowes Roman Onkel Toms Hütte von 1852 wird häufig als wichtiger Impuls zur Abschaffung der Sklaverei bezeichnet. Der Abraham Lincoln zugeschriebene Satz, “das ist also die kleine Dame, die diesen großen Krieg begonnen hat“, mit dem er sie während des Bürgerkrieges 1862 empfangen haben soll, ist historisch nicht gesichert. Sicher aber ist die große politische Bedeutung des Romans, der Abolitionisten wie John Brown den Weg ebnete, weil er das Thema Sklaverei vielen Menschen vor allem auch emotional nahegebracht hat.
Bücher wie J. D. Salingers Der Fänger im Roggen oder Hermann Hesses Der Steppenwolf haben ganze Generationen bewegt, ebenso Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein und Anna Seghers Das siebte Kreuz. Schwer vorstellbar, dass eine Experten- und Expertinnenrunde im gängigen TV-Format im Herzen verankern kann, was Anna Seghers letzter Satz im Buch Das siebte Kreuz gelingt: „Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äußeren Mächte in den Menschen hineingreifen können, bis in sein Innerstes, aber wir fühlten auch, dass es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar.“ (1)
Davon abgesehen, dass Literatur immer auch Wissen vermittelt, ist die große Chance, die sie bietet, etwas auszulösen, was genuin menschlich ist: Empathie.
Seid ihr bereit?
Um wirkungsvoll zu sein, fordert kulturelle Bildung immer auch Eigentätigkeit, also das persönliche Beteiligtsein. Lesen beteiligt, denn Lesende sind nicht nur Zuhörende, sondern Angesprochene, ganz gleich, ob sie die Rauhstellen des Textes, die Unsicherheiten, Fragen und Widersprüche nur mit sich oder in Gemeinschaft diskutieren. Die Fiktion erlaubt Distanz im Sinne von es-ist-ja-nur-eine-Geschichte und eröffnet dadurch gleichzeitig weite Räume, neue Denkmodelle auszuprobieren und neue Haltungen einzunehmen, sich in fremde Lebenswelten und andere Menschen zu versetzen. Der folgende Textausschnitt zeigt, dass Geschichten anders als Zahlen und Grafiken (zum Beispiel von gefallenen Soldaten, zerstörten Gebäuden), uns erlauben mitzufühlen, weil er Bilder und Emotionen – zum Beispiel von Angst und Schmerz – skizziert, an die sich auch ohne persönliche Kriegserfahrung andocken lässt.
„Die Soldaten wirken konzentriert, ruhig. […] Alle bereiten sich auf den Krieg vor, der weitergeht. Jeder plant, am Leben zu bleiben, zurückzukehren. Alle wollen zurück nach Hause, alle mögen das Gefühl heimzukehren. Ich mag es auch, zur Station zurückzukommen, die Häuser zählen, die Nachbarn auf der Straße erkennen, warten, bis hinter der Ecke unser Haus auftaucht […]. An der Haltestelle bemerke ich eine Pappschachtel. Dort winselt leise etwas. […] Zwei Hundewelpen. Rötlich, gefleckt. Der eine ist schon kalt. Der andere wird auch gleich verenden. ‚Lass ihn uns mitnehmen‘, sage ich zu Pascha. ‚Lieber nicht‘, antwortet der. ‚Opa wird schimpfen.‘ […] ‚Wenn ich ihn hier lasse, krepiert er ganz sicher‘, widerspreche ich ihm, nehme vorsichtig den Welpen auf den Arm […]. ‚Ist er gestorben?‘, fragt Pascha schon mit Interesse. ‚Quatsch‘, antworte ich. ‚Wenn er erwachsen ist, reißt er jeden in Fetzen.‘ Pascha lacht skeptisch. Wir biegen um die Ecke. Unsere Fenster leuchten in einem gleichmäßigen Fernsehlicht. Zu Hause riecht es nach frischen Bettlaken.“ (2)
Anders als wissenschaftliche Analyse und daraus resultierende Fakten, erweitert Literatur nicht nur den Kontext und stellt alles in einen größeren menschlichen Zusammenhang, sondern sie stellt in guten Momenten auch die drängenden Fragen, so wie die Zeilen des titelgebenden Gedichtes von Serhij Zhadan: „Seid ihr bereit zu sprechen, als hinge von euren Worten / Die Zukunft der Zivilisation ab?“ (3)
Literatur
Beecher-Stowe, Harriet (1977): Onkel Toms Hütte, Frankfurt am Main
Hesse, Hermann (1974): Der Steppenwolf, Frankfurt am Main
Pfizenmaier, Sven (2022): Draußen feiern die Leute, Zürich – Berlin
Salinger, J. D. (2003). Der Fänger im Roggen, Köln
Seghers, Anna (24. Auflage 1985): Das siebte Kreuz, Darmstadt und Neuwied
Zhadan, Serhij (2018): Internat, Berlin
Zhadan, Serhij (2020): Antenne. Gedichte, Berlin
Fußnoten
(1) Seghers 1985, S. 288
(2) Zhadan, 2018, S. 300 f.
Erschienen in: Praxis Gemeindepädagogik. Zeitschrift für evangelische Bildungsarbeit. 75. Jahrgang // Heft 4 // Oktober – Dezember 2022