Stille Nacht, streitbare Nacht
29. Januar 2020
Aufgewühlt: Die Risse in der Gesellschaft können sich auch zwischen Christen öffnen – oder sie lernen wie in Bretnig eine Lektion der Weihnachtsgeschichte.
Von Andreas Roth
Selbst das Jesuskind in der Krippe ist in Bretnig schon in den Riss geraten, der die Gesellschaft durchzieht. Am Heiligen Abend vor zwei Jahren war das, als die Junge Gemeinde Maria, Josef und ihr Kind als jüdische Familie auf der Flucht vor den Nazis zeigte. Da gab es Protest. War das politische Propaganda oder frohe Botschaft?
Jetzt sitzen Bernhard Rummel, Brigitte Sontopski und Pfarrer Tobias Schwarzenberg im Bretniger Gemeindesaal wieder vor der Krippe und fragen sich, wie politisch Kirche sein darf. Ob sie überhaupt politisch sein soll. Ob sie zu einseitig ist. Jesus, Maria, Josef und die Hirten im Miniaturformat schweigen still. Die Antwort muss die Gemeinde selbst finden.
Den Christinnen und Christen in dem Lausitzer Ort Bretnig geht es wie vielen in Sachsen dieser Tage. 31,1 Prozent haben in der Stadt Großröhrsdorf, zu der das Dorf gehört, die AfD gewählt. Im Kirchenvorstand gibt es zwischen Linksgrünen und sehr Konservativen ein weites Feld. Die meisten sind eher konservativ. Aber man ist per Du, natürlich.
»Rechts von der CDU sind doch keine bösen und gottlosen Menschen«, sagt der Kirchvorsteher Bernhard Rummel vor der Krippe im Bretniger Gemeindesaal. Er ist Krankenpfleger, vierfacher Vater, ein ruhiger, freundlicher Mann im karierten Hemd. Aber jetzt kommt Energie auf. »Wenn etwa 30 Prozent der sächsischen Christen AfD gewählt haben, befürworten sie doch weder die Judenvernichtung noch heißt es, dass sie nicht gastfreundlich gegenüber Ausländern sein wollen. Es ist ein Aufschrei: So geht es nicht weiter!«
Brigitte Sontopski (65) ihm gegenüber holt tief Luft. »Wenn Politiker der AfD christlichen Werten widersprechen, muss sich Kirche klar abgrenzen«, erwidert die Sozialdemokratin mit den roten Haaren, Wurzeln im Ruhrpott und der katholischen Kirche, die gern den evangelischen Gottesdienst in ihrem Dorf besucht. »Und das fehlt mir.«
Pfarrer Tobias Schwarzenberg neben ihr würde durchaus ein paar rote Linien ziehen: Gegen die Hetze von AfD-Politikern wie Björn Höcke, gegen die Veränderung der Erinnerungskultur an die Shoah und dem Wunsch nach Autoritärem. Schwarzenbergs Großvater war einst als junger Theologe in die SA ein- und angesichts der Gewalt 1933 wieder ausgetreten. Nicht nur deshalb wünscht sich der Pfarrer manchmal mehr Klarheit von seiner Landeskirche.
»Das wäre mir zu viel, wenn es als Instruktion von oben herab kommt«, widerspricht ihm sein Kirchvorsteher Rummel sogleich. »Es muss aus unserem Glauben heraus klar sein: Braun geht nicht.« Aufgewachsen in einem pietistischen Pfarrhaus im Süden von Leipzig und mit den Umweltgottesdiensten gegen die Verheerungen der Braunkohle im Realsozialismus, hat er bis heute eine Allergie auf Losungen von oben. So wie viele ehemalige DDR-Bürger.
Bernhard Rummel hat heute ein Haus und einen guten Beruf in Staatsdiensten, ins Bild vom »Abgehängten« passt er nicht. Doch der Bau von Windrädern, die Abschaffung von Ölheizungen, selbst die kirchliche Strukturreform – immer gehe es auf Kosten des Landes. So sieht er das, und bei weitem nicht nur er.
Und dann ist da noch Arnsdorf. Dort arbeitet Bernhard Rummel als Krankenpfleger in der Psychiatrie. Arnsdorf wurde in Medien bundesweit zur Chiffre für das braune Sachsen, nachdem Einheimische dort vor drei Jahren einen 21-jährigen Iraker in einem Supermarkt nach einem Streit an der Kasse geschlagen und gefesselt hatten.
Bernhard Rummel kannte diesen Mann als Patienten so wie viele Flüchtlinge, die in der Klinik behandelt werden. »Alles sehr schätzenswerte Menschen«, sagt er, aber eben auch krank. Und deshalb mitunter gewalttätig. So wie dieser junge Iraker, sagt er. Als er die Schlagzeilen über den Angriff auf einen friedlichen Menschen in Arnsdorf las, dachte er: »Wenn ich jetzt anfange, das zu widerlegen, bin ich ein Nazi.«
Wenn Brigitte Sontopski dagegen, die sich im Übrigen auch Sorgen um ihre Ölheizung macht, mit AfD-Wählern über die Hetze von Höcke und Co. diskutieren will, dann gewinnt sie oft den Eindruck: »Das wird gleich als Maulkorb verstanden.« So drohen beide Seiten, sich im Schweigen einzumauern. Einem bitteren Schweigen.
»Wir sind schnell dabei, dass Fakten keine Rolle mehr spielen – sondern nur noch Moral«, sagt Pfarrer Tobias Schwarzenberg. Auch in der Kirche. Und auf allen Seiten. Er hat das selbst gespürt. Etwa als er 2015 im Dorf seiner damaligen Erzgebirgsgemeinde auf dem Podium saß, für Menschlichkeit gegenüber den ankommenden Flüchtlingen einstand, in teils aggressive Gesichter blickte und danach am Küchentisch zu seiner Frau sagte: »Wenn morgen eine Drohung im Briefkasten läge, würde mich das nicht wundern.«
Aber auch, als er hernach über Nächstenliebe für Flüchtlinge zu predigen begann. Nicht jedem in den Kirchenbänken wird das vermutlich gefallen haben. Im Rückblick stellt er selbstkritisch fest: »Man ist schneller dabei, einen Anspruch zu formulieren als den Zuspruch des Evangeliums: Gott schenkt uns auch den Frieden.«
Brigitte Sontopski wünscht sich eine viel politischere Kirche, Bernhard Rummel eine unpolitische. Die Sozialdemokratin will die offene Diskussion mit Wählern von rechts, dem Kirchvorsteher ist die EKD viel zu grün und angepasst und unfromm. Rummel will keine klare Kante. Selbst gegenüber NPD-Wählern nicht, so lange sie der Nächstenliebe nicht widersprechen. Wie Paulus gesagt habe: »Nehmt einander an«. Brigitte Sontopski hingegen hält ein paar rote Linien nach rechts schon für nötig. Als Landesbischof Carsten Rentzing im Oktober von seinem Amt zurücktrat, hat auch Bernhard Rummel kurz über Rücktritt nachgedacht: aus seiner Kirche.
Brigitte Sontopski und Bernhard Rummel streiten. Aber sie lassen einander ausreden, hören zu, wägen ab. Um solchen Gesprächen Raum zu geben, hat Pfarrer Schwarzenberg für 2020 in seiner Gemeinde eine Veranstaltungsreihe vorbereitet. Am 26. Februar wird im Bretniger Pfarrhaus ein Abend zusammen mit der Evangelischen Akademie und ihrem Direktor Stephan Bickhardt stattfinden.
»Wir als Kirche können helfen, die Spaltungen in unserer Gesellschaft zu überwinden, indem wir unterschiedliche Positionen miteinander ins Gespräch bringen«, sagt der Theologe und frühere Bürgerrechtler Bickhardt. »Und damit können wir auch den Populismus bekämpfen, der komplizierte Fragen auf einfache Antworten verkürzt.«
Das Jesuskind in der hölzernen Krippe von Bretnig schläft noch. Nachdenklich schaut die kleine Diskussionsrunde auf die winzige Gestalt. »Für mich ist eindeutig die Weihnachtsbotschaft, dass keiner ausgeschlossen werden sollte«, sagt Brigitte Sontopski. »Das Licht der Weihnacht in unser Herz einlassen bedeutet für mich, eine dienende Haltung zu entwickeln«, sagt Pfarrer Tobias Schwarzenberg. »Den Anderen mit seinen anderen Prägungen und Vorstellungen annehmen, auch wenn ich sie nicht teile.« Für Bernhard Rummel ist Weihnachten vor allem ein Gefühl mit viel Wärme.
Und wenn das Jesuskind am Heiligen Abend wieder in den Riss unserer Tage gerät? Es wäre ja möglich, dass es genau dort sein will.