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Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Über die Wahrheit in Zeiten von „fake news“


14. September 2020

Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer

Von Dr. Kerstin Schimmel

„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“: So fragte einst der Philosoph und Psychotherapeut Paul Watzlawick provokativ – und hinterfragte damit unser naives Alltagsverständnis von Realität. Vier Jahrzehnte später scheint sich der Begriff von Wirklichkeit aufzulösen – spätestens seit eine Beraterin von Donald Trump Vorwürfe, sein Pressesprecher habe die Anzahl der Menschen bei seiner Amtseinführung weit übertrieben, mit dem Hinweis konterte, es handle sich um „alternative Fakten“.

Oder nehmen wir die „Hygienedemos“: Derzeit beharren viele Corona-Demonstrierende auf ihren Meinungen, auch wenn sie noch so abstrus klingen – etwa, dass Bill Gates für Corona verantwortlich sei, oder es aber Corona gar nicht gebe. Ist Wirklichkeit völlig beliebig geworden?

Dr. Elmer: Die Wahrnehmungspsychologie weiß darum, wie perspektivenabhängig und täuschungsanfällig unsere Beschreibungen und Erinnerungen von Realität sind. Auch aus der Aussagenpsychologie wissen wir, wie Zeugenaussagen oft Wahrnehmungsverzerrungen unterliegen. Doch heißt das ja nicht, dass es keine Wirklichkeit gibt, auf die wir uns gemeinsam beziehen können. Dieser gemeinsame Bezugspunkt wird aber gerade hinterfragt.

Mit Pilatus könnte man ja tatsächlich ganz prinzipiell die Frage stellen: „Was ist Wahrheit?“

Dr. Elmer: Seit den Analysen von Philosophen wie Michel Foucault wissen wir darum, wie Machtstrukturen das beeinflussen, was wir als Wirklichkeit betrachten. Und in der Folge haben viele Philosophinnen und Philosophen der Postmoderne tatsächlich ganz grundsätzlich gefragt, ob Realität nicht nur etwas ist, das von uns konstruiert wird. Doch das birgt die Gefahr der Beliebigkeit in sich, gerade auch in Bezug auf unsere Werte. Wenn etwa die Menschenrechte nicht mehr als universell angesehen werden, besteht die Gefahr, wichtige Normen mit dem Hinweis auf ihre Kulturabhängigkeit zu relativieren.

Nun gibt es ja diese kulturelle Einbettung von Werten tatsächlich. Und auch die Beschreibung und Erklärung der materiellen Welt ist kontextabhängig. Das habe ich in meinen Begegnungen und in meiner Arbeit zum Beispiel mit indigenen Gruppen in Lateinamerika oft erfahren.

Dr. Elmer: Ja, das war auch ein wichtiger Impuls der Postmoderne: anzuerkennen, dass Welterklärungen und Normen der westlich-männlichen Perspektive nicht das allein Seligmachende sind! Und doch müssen wir uns in Grundzügen darauf verständigen, was wirklich und was richtig ist. Sonst kann Brasiliens Präsident Bolsonaro den Klimawandel leugnen und munter den Regenwald abholzen, und ein Regime in Asien oder Afrika kann individuelle Menschenrechte mit dem Hinweis beiseite wischen, dass es sich dabei um rein westliche, kolonialistische Normen handle.

Und wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?

Dr. Elmer: Die grundlegenden wissenschaftlichen Prinzipien der systematischen Beobachtung und Überprüfung sowie der logischen Begründung müssen allgemein anerkannt und akzeptiert werden. Und zwar ohne einer naiven und die Wirklichkeit verengenden Wissenschaftsgläubigkeit anheim zu fallen. Der Philosoph Jürgen Habermas hat in seiner Theorie des kommunikativen Handelns dargelegt, nach welchen Regeln ein Diskurs über materielle und ethische Aussagen stattfinden sollte, um sich über unser Verständnis von Wirklichkeit zu einigen. Im Gegensatz zu früheren Jahren unterstreicht er dabei übrigens die Bedeutung des jüdisch-christlichen Erbes und von Religion generell. Und zwar nicht im Sinne einer alles andere ausschließenden Wahrheit, sondern als Inspiration für einen lebendigen Diskurs über das, was uns im Innersten zusammenhält.

Aber zum Diskurs müssen sich ja alle auf gemeinsame Regeln einigen. Das scheint mir in der gegenwärtigen Debatte – wieder das Beispiel Corona-Demonstrationen – nicht der Fall zu sein.

Dr. Elmer: Das ist tatsächlich ein großes Problem: Wer sich in Filterblasen zurückzieht, sich in medialen Echokammern immer nur im eigenen Weltbild bestätigen lässt, der oder die ist schwer erreichbar. Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Der Medienwissenschaftler Ethan Porter hat in zahlreichen Experimenten herausgefunden, dass Menschen sich überwiegend der Kraft des Faktischen beugen und sich von fundierten, rationalen Argumenten überzeugen lassen, auch wenn diese ihrer Weltsicht widersprechen. Das ist doch für eine Evangelische Akademie ein gutes Zeichen: dass der lebendige Diskurs fruchtet! Auch wenn es dafür sicherlich länger braucht, als eine kurze Abendveranstaltung bieten kann. Vielleicht sollten wir den Menschen mehr zutrauen. Viele wollen keine Info-Häppchen mehr, die gibt es im Netz zuhauf und viel bunter, was oftmals fehlt, sind Zeit und Raum für Besinnung und Diskussion!

Auf vielfachen Wunsch führen wir die Interview-Reihe nach der Sommerpause fort – jeweils am zweiten Montag des Monats.

Foto: Arek Socha auf Pixabay

4 Kommentare zu “Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Über die Wahrheit in Zeiten von „fake news“”

  1. Hans-Christian Trepte schrieb am 17.09.2020 um 11:02 Uhr:
    Wir wirklich ist die Wirklichkeit? Eine zentrale Frage, die auch von der schöngeistigen Literatur im Zusammenhang von facta und ficta immer wieder aufgegriffen wird. Das betrifft auch bewusst funktionalisierte Wahrnehmunsverzerrungen in Extrem- und Ausnahmesituationen mit denen wir es in Zeiten von Corona erneut zu tun haben. Es ist nichts Neues, eine Pandemie wird zum literarischen Thema, sie sucht und findet ihre Autoren und wird in einem nicht abgeschlossenen Prozess vergegenwärtigt. Dabei werden die beunruhigenden Zahlen der Virologen in einer Zeit der verstärkten Unsicherheit, der Panikmache, der Verschwörungen und Zweifel in einzelne Schicksale, Erzählungen verwandelt. Angst, Krankheit, Sterben und Tod werden thematisiert, es wird nach Vergleichbarem nicht zuletzt auch in der Literatur gesucht, von der "Attischen Seuche" über die "Spanische Grippe" und "Die Pest". Dabei wurde immer auch nach Schuldigen gesucht (die "Brunnenvergifter") und diese auch gefunden. Immer wieder verbreiteten sich in Blitzesschnelle Verleumdungen gepaart mit Verschwörungstheorien. Keine Epidemie, in der nicht zahlreiche Demagogen auftraten. Angesichts der Corona-Pandemie bedient sich eine Gruppe erzkonservativer Bischöfen der katholischen Kirche klassischer Verschwörungstheorien, sie sehen eine "allmächtige Weltregierung" am Werk, die sich "jeder Kontrolle entzieht"... Die (Pandemie)Literatur reagiert dabei auf ganz unterschiedliche Weise, von der "Tödlichen Ansteckung. Das Wüten des Corona-Vitus" (Alessandro Nonno), über "In Zeiten der Ansteckung" (Paolo Giordano) bis hin zu teilweise fiktiven Corona-Tagebüchern "So ist die Welt geworden" (Marlene Streeruwitz). Einige Schriftsteller wie Daniel Calla ("Patient Null"), Dean Koontz ("The Eyes of Darkness") haben die Pandemie bereits vorweggenommen. Dabei behält es sich die Literatur stets vor über die Wirklichkeit auf ihre eigene Art und Weise zu schreiben, eben zwischen Fakten und künstlerisch-literarischer Fiktion.
    • Olivier Elmer schrieb am 21.09.2020 um 12:41 Uhr:
      Ohne die reiche Fiktionalität der Literatur, ohne ihre utopischen oder dystopischen Elemente, aber auch ohne die ungezügelte Formensprache der Kunst wären gesellschaftliche Diskurse reduziert auf eine blutleere Empirie oder den Schlagabtausch der Meinungen. Erst Literatur und Kunst lassen uns die Wirklichkeit aus unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmen und experimentell, imaginativ verändern.
  2. Gundula Sell schrieb am 14.09.2020 um 23:50 Uhr:
    Wollen wir es mal hoffen, dass man Leute von Fakten und Vernunft überzeugen kann! Mir scheint es derzeit gerade umgekehrt zu sein. Jeder trägt seine Wahrheit herum, sie gilt ihm als die einzige, so absurd sie auch sei. Oder es wird behauptet, alles sei gleich wahr und wert, sei es Wissenschaft, Verschwörungsgeschwafel, Bauchgefühl oder "gesundes Volksempfinden". Ich sehe die Gefahr, dass die gemeinsame Sprache verlorengeht. Wir können nur geduldig weitermachen, ob es nun wirkt oder nicht ...
    • Olivier Elmer schrieb am 15.09.2020 um 13:44 Uhr:
      Wir werden den Balanceakt wagen müssen: versuchen, mit guten Argumenten in oft anstrengenden Diskussionen Vernunftgründe zur Geltung zu bringen - und uns andererseits nicht verschleißen in Streitgesprächen mit Menschen, die sich komplett in ihr Gedankengebäude zurückgezogen haben. Und ja: es geht m.E. auch um gemeinsame Diskussionsregeln.

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