Liest du noch oder surfst du schon? – Für die Renaissance einer untergehenden Kulturtechnik
2. Juni 2020
Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer
Von Dr. Kerstin Schimmel
Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass in Zeiten, in denen die Menschen vermehrt zuhause bleiben, auch mehr gelesen wird. Doch zumindest die Verkaufszahlen für Bücher spiegeln das nicht wider – im Unterschied zu steigenden Streamingzahlen bei Netflix: der Buchmarkt ist während der Corona-Pandemie eingebrochen. Ohne kulturpessimistisch werden zu wollen: Was heißt es aus psychologischer Sicht, wenn die klassische Lesekultur abnimmt? Oder anders gefragt: Eröffnen die neuen Medien – die gar nicht mehr so neu sind – auch kulturell ganz andere Möglichkeiten?
Dr. Elmer: Zunächst sind neue Medien aus meiner Sicht durchaus ein Gewinn: Ich informiere mich über Online-Angebote von Zeitschriften, Websites verschiedener Organisationen oder auch einfach WIKIPEDIA schneller und vielfältiger, als ich mir das vor 20 Jahren noch habe vorstellen können – wenn auch in dem Bewusstsein, dass Informationen heute bisweilen schneller ins Netz gestellt werden, als es gründlicher Recherche gut täte. Auch die Tatsache, dass dieses Interview auf der Website der Evangelischen Akademie veröffentlicht wird und Menschen dadurch die Möglichkeit haben, mit Kommentaren direkt darauf zu reagieren, ist ja ein Zeichen dafür, dass neue Medien ein kultureller Zugewinn sein können. Doch leider geht mit diesem Zugewinn auch ein Verlust einher, weil das klassische Lesen nicht mehr so eingeübt wird, wie es aus entwicklungspsychologischer Perspektive sinnvoll wäre.
Ich selbst habe hunderte Krimis auf meinem E-Book-Reader gelesen, während ich trotzdem meine „papierene“ Bibliothek schätze. Man könnte ja auch den Standpunkt einnehmen: Hauptsache, es wird überhaupt gelesen.
Dr. Elmer: Das ist einerseits sicherlich richtig. Auf der anderen Seite wissen wir aus der psycholinguistischen Forschung, dass Gelesenes im Gehirn offensichtlich anders verarbeitet wird, wenn es über einen Bildschirm vermittelt wird statt klassisch über Papier. Gedruckte Informationen scheinen das Textverständnis zu erhöhen, vermutlich weil sie langsameres Lesen begünstigen. Über Bildschirm wahrgenommene Informationen führen in Leseexperimenten dazu, dass die Lesenden ihr Textverständnis überschätzen – und zwar unabhängig davon, ob sie „digital natives“ sind oder nicht.
Für mich bedeutet die sinnliche Qualität beim Lesen gedruckter Bücher auch ein anderes ästhetisches Erlebnis.
Dr. Elmer: Das kommt noch dazu. Es werden ganz andere Sinneskanäle und Hirnregionen aktiviert. Dass Verlage, wie zum Beispiel die „Büchergilde Gutenberg“, das vom Aussterben bedrohte Handwerk der Buchkunst weiter tapfer pflegen, ist auch in dieser Hinsicht verdienstvoll.
Nun geht es vermutlich nicht nur um die Frage „Gedrucktes versus Bildschirm“. Denn Digitalisierung bedeutet ja auch eine ganz andere Aufbereitung von Texten.
Dr. Elmer: Genau. Die mediale Aufbereitung von Texten in Blogs, Websites usw. fördert etwas, dass die amerikanische Leseforscherin Maryanne Wolf „schnelles Lesen“ nennt: das rasche Scannen von Texten und Darstellungen nach subjektiv relevanten Informationen.
Das kann ja auch nützlich sein…
Dr. Elmer: Natürlich. Und neue Medien sind auch hervorragend darin, für ganz unterschiedliche Bedürfnisse passende Präsentationen zu entwickeln. Insofern wäre es unsinnig, in einem romantischen, rückwärtsgewandten Reflex diese Medien bilderstürmerisch verbannen zu wollen – abgesehen davon, dass das völlig unrealistisch wäre.
Es geht eher darum, Bewährtes nicht zu vergessen. Mir fällt dabei ein, dass die grand old lady des Punk Patti Smith in einem Interview in der ZEIT kürzlich erzählte, dass sie ihre Lieblingsbücher oft mehrmals lese, und zwar auf jeweils unterschiedliche Art: zunächst zügig das ganze Buch; dann, längere Zeit später, sehr langsam und gründlich, wobei sie immer neue Aspekte entdecke. Und oft auch noch ein drittes oder gar viertes Mal auf eine, wie sie es nannte, „kubistische“ Art, bei der sie zufällig Passagen auswähle und ganz neue Bezüge herstelle. Das ist sicherlich eine Art des Lesens, die mit neuen Medien kaum möglich ist.
Dr. Elmer: Das ist genau die Art des Lesens, die Wolf „langsam“ nennt. Es ermöglicht, die Tiefenstruktur eines Textes zu erfahren. Es ist ein Lesen, das kreatives Denken ermöglicht, eine vielfältige Vorstellungswelt anregt und Areale unseres Gehirns aktiviert, die Empathie ermöglichen. Der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer warnt ja davor, dass die exzessive Nutzung von Smartphones und PCs mit ihren Spiel- und Chatmöglichkeiten Suchtpotenzial berge und zur „digitalen Demenz“ führe. Das sehe ich nicht so pessimistisch. Aber ganz gewiss ist auch die euphorische Überzeugung mancher Bildungspolitikerinnen und -politiker übertrieben oder gar riskant, dass ganz viel gewonnen wäre, wenn nur alle Grundschulen endlich mit Tablets ausgerüstet wären. Deshalb haben auch letztes Jahr die bedeutendsten Leseforscherinnen und –forscher in der internationalen Erklärung von Stavanger dazu aufgerufen, das klassische Lesen wieder mehr zu fördern. Und das sehe ich auch so. Aus psychologischer Sicht ist eine bildungspolitische Verengung auf elektronische Wissensvermittlung fatal – sofern man unter Bildung mehr versteht als das schnelle Scannen von Informationen.
Nicht nur Lesen, auch Schreiben kommt ja anscheinend etwas aus der Mode. Auch eine vernachlässigte Kulturtechnik?
Dr. Elmer: Schreiben hat eine überaus wichtige Bedeutung für die Entwicklung von Kreativität und von grundlegenden kognitiven Funktionen wie Konzentration, Gedächtnis und Wortschatz. Als jemand, dessen Handschrift von ägyptologisch Versierten entziffert werden muss, fällt es mir schwer zu sagen – doch das Einüben der Handschrift ist entwicklungspsychologisch sinnvoller, als rasch das 10-Finger-System beim elektronischen Schreiben zu vermitteln, wie manche Grundschulen in den USA das propagieren. Die Sensomotorik beim Erlernen von Schreibschrift ist deshalb so wichtig, weil dadurch geistige und leibliche Erfahrungen verknüpft werden. Das Forschungsfeld, das sich damit beschäftigt, heißt embodied cognition und bestätigt diese Annahme. Wer übrigens je chinesische Schülerinnen und Schüler bei ihren hingebungsvollen kalligraphischen Übungen beobachtet hat, weiß, dass das nicht ausschließt, sich eine Stunde später Computer-Algorithmen zu widmen.
Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller berichten davon, dass Schreiben eine quasi therapeutische Funktion für sie habe. Graham Greene und Hilde Domin haben sich beispielsweise so geäußert. Man denke nur an Kafkas „Brief an den Vater“!
Dr. Elmer: Deswegen hat der Psychologe James Pennebaker das Expressive Schreiben als psychotherapeutisches Instrument entwickelt. Und Ilse Orth aus germanistischer sowie Hilarion Petzold aus psychologischer Perspektive haben die Poesie- und Bibliotherapie begründet. Lesen und Schreiben sind eben Kulturtechniken, die nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine heilsam emotionale Seite haben.
Und doch möchte ich noch eine Lanze dafür brechen, Lesen und Schreiben auch durch neue Medien zu bereichern. Mit der sehr innovativen Schreiblehrerin Sandra Miriam Schneider bereite ich gerade – durch Corona dazu angeregt – eine Schreibwerkstatt in Form eines Webinars für die besonderen Ansprüche der Akademiearbeit vor.
Dr. Elmer: Und genau darum geht es auch mir: Offen zu sein für Neues – aber altes Wissen und tradierte Fertigkeiten dennoch zu schätzen und einzuüben!
8 Kommentare zu “Liest du noch oder surfst du schon? – Für die Renaissance einer untergehenden Kulturtechnik”