Wiedervereinigung
7. Juli 2020
Dr. Kerstin Schimmel im Gespräch mit dem Schreiblehrer Axel von Villebois
Moin, Axel! Wir begehen in diesem Jahr 30 Jahre Wiedervereinigung. Du hast diesen Prozess als Dozent der Meißner Schreibwerkstatt von Anfang an begleitet. Ich erinnere mich noch an Deine berührende Geschichte über die Schaukel, als die Meißner Schreibwerkstatt noch in der alten Akademie am Jüdenberg, stattgefunden hat; das muss 1990 gewesen sein. Das Zusammengehen beider deutscher Staaten war ja nicht in allen Belangen eine Liebesheirat, wie war dieser Beginn für Dich als Westdeutscher, als Kieler?
Verrückt und wunderschön zugleich!
Jung, langhaarig und mit Jeansjacke gekleidet stand ich im Meißner Bahnhof und damit in einer Welt, die aussah wie in den Schwarzweiß-Filmen der alten Wochenschauen. Die Häuser waren grau und braun, die Straßen leer. Es roch nach Schornsteinrauch, nach Kohle. Die Kohletonnen auf der Straße hatte ich das letzte Mal in meinen Kindertagen gesehen.
Und als ich da plötzlich vor ca. 20 oder 25 Teilnehmern stand in meinem Outfit wie ein westdeutscher Schlagersänger, hatte ich das Gefühl, mitten in eine Falle gefahren zu sein. Denn im Grunde bediente ich zu dem damaligen Zeitpunkt alle Klischees, die man sich nur vorstellen kann: Ein junger Wessi kommt mal eben locker flockig über die eingestürzte Mauer daher gesprungen und soll den Ossis nun das Schreiben beibringen! Vor mir ein endloses Feld voller psychologischer Tretminen. Die meisten Teilnehmer, Männer wie Frauen, waren 20 der 30 Jahre älter als ich und trugen eine Biografie in sich, von der ich nichts, aber auch gar nichts selbst erlebt, erfahren oder gar erlitten hatte. Und ausgerechnet ich, der Junglehrer aus dem wohl behüteten Hamburg und Kiel, sollte diesen Menschen zum Schreiben bringen?
Sie werden mich auffressen, dachte ich, langsam, aber sicher, und zwar mit gutem Recht. Innerlich wurde ich immer kleiner und wäre gerne verschwunden in der dunklen sächsischen Erde und getürmt durch irgendeinen unterirdischen Tunnel gen Westen!
Aber dann geschah dieses Wunder. Sie lächelten, hießen mich willkommen und fingen sofort an zu schreiben, als ich sie zum Begriff „Aufbruch“ assoziieren ließ. Und dann lasen sie ihre Texte vor, vor mir, als gehöre ich dazu. Und ihre Texte waren so bewegend, so leidvoll, so authentisch und so ehrlich, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Sie beschämten mich auf ganz eigene Weise. Und wenn es eine Botschaft gab, die hier in diesen Texten lag, dann diese: Hör einfach nur zu! So fand ich meine Rolle, meinen Platz in dieser Schreibwerkstatt. Ich konnte diesen Menschen meine Impulse geben, ansonsten war ich der Lernende, nicht sie. Und ich durfte ihnen zuhören, was geschehen war in diesen langen Zeiten, in denen wir uns nicht kannten.
Es war für mich die bewegendste und herzenswärmste Schreibtagung, die ich seitdem erlebt habe.
Und vielleicht bin ich dieser Schreibwerkstatt bis heute treu geblieben, weil ich – damals noch auf dem Jüdenberg – etwas von dem erleben durfte, was man landläufig „Wiedervereinigung“ nennt.
Diese erste Begegnung liegt fast 30 Jahre zurück. Wie hat sich aus Deiner Sicht die Meißner Schreibwerkstatt seitdem verändert?
Der politische Charakter, der in den ersten Schreibtagungen noch eine wesentliche Rolle spielte, nämlich die Auseinandersetzung mit der vergangenen und gegenwärtigen Lebensgeschichte im Zeichen der Wende, dieser Charakter ist in dem ausgeprägten Maß nicht mehr da. Die Teilnehmerschaft der Tagungen hat sich auch verändert. In den ersten Jahren kamen die Menschen fast ausschließlich aus den sächsischen Städten und Dörfern. Westdeutsche waren kaum vertreten. Mittlerweile hat sich die Schreibwerkstatt zu einer Begegnungsstätte von Menschen aus Ost und West entwickelt, die sich wichtigen Themen der Zeit schreibend nähern.
Was die Schreibwerkstatt bei allen Veränderungen damals wie heute auszeichnet, das ist ihr atmosphärischer und auch ihr geistiger Charakter: Immer ging und geht es in den Schreibgruppen ausgesprochen herzlich und offen zu. Rivalitäten und Schreibeitelkeiten haben in Meißen nie eine tragende Rolle gespielt. Hier schreiben keine Pseudo-Schriftsteller, sondern Laien im besten Sinne, die ihr persönliches Schreiben in dieser Umgebung unter Anleitung weiter ausbilden wollen.
Ebenso hat sich in der Meißner Schreibwerkstatt nie der Bazillus des psychologisierenden Schreibens durchsetzen können. Nie ging es hier um die Psycho-Probleme einzelner Teilnehmer, sondern stets stand das geschriebene Wort, die literarische Ausgestaltung eines Themas im Zentrum der Besprechung. Das Schreiben in Meißen galt und gilt stets der Suche nach Identität und Authentizität. Die Fragen „Wer bin ich?“, „Wo komme ich her?“ und „Wo will ich hin?“ finden sich in den geschriebenen Texten aller Teilnehmer wieder, ob es Beschreibungen, Geschichten oder auch Gedichte sind. Das ist eine tragende Säule der Meißner Schreibwerkstatt geblieben und hat sich von Beginn an als Tradition, wenn man will, entwickeln können.
Vielen Dank, Axel! Die Frage „Wo will ich hin?“ kann ich sofort beantworten, nämlich (hoffentlich) vom 9. – 12. Juli 2021 in das Ev. Zentrum Ländlicher Raum / Heimvolkshochschule Kohren-Sahlis, wo wir mit dem Thema „Meißner Schreibwerkstatt unterwegs: Landpartie“ zu Gast sein werden.