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Ansprache zum Friedensgebet am 9. Oktober 2021 in der Nikolaikirche Leipzig


12. Oktober 2021

Von Stephan Bickhardt

Liebe Besucherinnen, liebe Gäste, liebe Gemeindeglieder,

an einem historischen Tag, am 9. Oktober, am Tag der friedlichen Revolution in Ostdeutschland nach 32 Jahren, damals 1989 ein Montag, empfinden wir Dankbarkeit und sind ergriffen von dem, was damals geschah. Udo Hartmann, Cornelia Bornschlegel, Kathrin Hattenhauer und 30 weitere Mitglieder oppositioneller Basisgruppen saßen an jenem Tag im Stasigefängnis unweit des Leipziger Ringes in der Beethovenstraße. Sie und ihre Freunde hatten diese Demonstration über Monate vorbereitet mit Mut, dem Mut für die Presse- und Versammlungsfreiheit einzutreten – indem sie es einfach taten, Flugblätter verteilten und Versammlungen im öffentlichen Raum organisierten. Was da montags nach den Friedensgebeten über Jahre seit 1982 anwuchs, war und ist getragen von Basisgruppen, die hier in der Nikolaikirche Leipzig von der Gemeinde und couragierten Mitgliedern so geduldig und konsequent unterstützt wurden und werden, DANKE.

Ich nehme den gewohnten Weg für die Auslegung eines Bibelwortes im Friedensgebet. Gerade in den Revolutionswochen 1989 halfen die Tageslosungen der Evangelischen Kirche, den Friedensgebeten eine Richtung zu geben. Ja wirklich, Losungen, gezogen aus einem großen Zettelkasten mit Bibelworten, die um die Welt gehen, Jahr um Jahr. Für den heutigen Tag heißt die Losung aus dem Josuabuch des Alten Testaments: „Wenn ihr auf all das zurückschaut, so begegnet dem Herrn mit Ehrfurcht! Dient ihm aufrichtig und treu! Schafft die Götter ab, die eure Vorfahren verehrt haben.“ (Josua 24,14) In den Friedensgebeten landauf landab 1989 wurden die Tageslosungen zum Maßstab eines glaubenden Verständnisses politscher Ereignisse. Kann ein Bibelwort helfen, was jetzt politische Aufgabe ist? (Wiederholung Tageslosung nach der Übersetzung der Basisbibel)

Wir sind heute hier, weil wir den Aufbruch von 89 bei uns tragen, eine einmalige Erfahrung. Manche erzählen, wie überwältigt sie waren, als sie aus den Kirchen der Innenstadt traten und die Menschenmassen sahen am Abend des 9. Oktober, die vielen Tausend. Eine friedliche demokratische Revolution nahm ihren Anfang und dieser Anfang wird für immer zugleich der Höhepunkt sein, weil eben überraschend so viele kamen, weil die langen Jahre der Oppositionsarbeit und der Montagsgebete mit einem Mal zur Botschaft für das

                                                             

ganze Land wurden. Eine friedliche demokratische gewaltfeie Revolution? Stimmt das? Ja, für diesen Tag und die Wochen bis zu den Runden Tischen war dies so. Aber, in den Monaten und Jahren zuvor saßen unfassbar viele Menschen im Land wegen kritischer Haltung im Gefängnis, 200.000. Der Weg zur friedlichen Revolution war überhaupt nicht friedlich, die Staatsmacht schlug zu. Dass aber Friedensbitte und Demo-Aktionen dann doch Staatsmacht und Polizei zum Einlenken bewegte, dafür sind wir dankbar, froh und dankbar. Da sind Gefühle aufgerufen, die über Sätze hinausgehen.

Wir sind heute hier, weil wir mit unserer Anwesenheit bezeugen wollen, dass wo immer demokratische Bewegungen im Gange sind ein Zeugnis nach der Leipziger Erfahrung abzulegen ist. Demokratie darf nicht zugrunde gehen, Demokratie soll weiter gehen. Alle Menschen haben ein Anrecht in demokratischen Verhältnissen zu leben. Alle Menschen haben ein Anrecht auf die Wahl zwischen streitigen Positionen. Alle Menschen haben ein Anrecht darauf, in einer Gesellschaft zu leben, die im Gespräch bleibt. Und wenn die Wahlfreiheit vorenthalten wird, wenn getrickst, gelogen, getäuscht dann noch verhaftet und gefoltert wird, gehört die Macht der Fälscher abgeschafft. Unter uns sind Menschen, die die von der SED gefälschte Wahl am 7. Mai 1989 dokumentierten, zu den Auszählungen gingen und mit dem Wahlbüro der Basisgruppen in der Leipziger Markuskirche, den Nachweis für die Fälschung erbrachten. Der Anfang der Demokratiebewegung in der damaligen DDR war das. Und die Stiftung Friedliche Revolution rief am 10. Oktober vergangenen Jahres zur Demo unter dem Motto: free belarus. Nach der gefälschten Präsidentenwahl. Und am Tor der Nikolaikirche Leipzig fanden Mahnwachen statt in der Fastenzeit: Leipzigerinnen sind solidarisch mit Belarus.

Jede und jeden von uns hier hat es eingenommen, mit Freude, manchmal mit Zittern, so ging es mir, wie Millionen Menschen in Belarus den Diktator friedlich, im Meer der Farben einer wunderbaren Nation, mit Gesang und Hau-ab-Sprüchen jeder moralischen Autorität enthoben haben. Das war am 9. August 2020 und in den folgenden Wochen. Und schon in den Jahren zuvor bewunderten wir, was couragierte Demokraten in der Ukraine, anfangs waren es wieder junge Leute und Studenten, an Mehrheitswillen auf den Maidan brachten. Denn wer ein Versprechen für Europa bricht, dessen Macht gehört abgeschafft. Über 100 Tote auf dem Maidan, die Toten des Krieges im Osten und Süden der Ukraine, die zahlreichen Verhaftungen seit der brutalen Verfolgung der Opposition in Belarus und die Toten dort – das ist ein Leid, das

                                                           

die Vorstellungskraft eines Menschen übertrifft. Und es gehört für uns Deutsche hinzu, bewusst darin zu bleiben: Belarus, Ukraine, westliches Russland und Polen haben die meisten Toten zu beklagen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und den Jahren des Stalinismus. Es ist dem Historiker Tomothy Snyder mit seinem Buch Bloodlands (Blutländer) zu danken, dies ins allgemeine Bewusstsein gebracht zu haben. 14 Millionen. Wir sind hier, weil wir in dieser Kirche bezeugen: Menschenwürde und die Integrität wirklich jedes Menschen besteht nach Gottes Willen. Darum bedeutet Erinnern immer ein Verneigen vor denen, die im Unrecht sterben mussten.

Josua, der Nachfolger des Mose ruft die Familien, die Sippen, die Stämme zu einer großen Versammlung nach Sichem. Der Ort liegt ziemlich zentral – auf dem heutigen Boden der Stadt Nablus. Diese große Versammlung der Einwanderer aus Ost und West in das damalige Land Kanaan, kann ziemlich genau datiert werden. Etwa 1250 Jahre vor Christi Geburt war das. Man kann schon von einer basisdemokratischen Versammlung sprechen, Parlament und das griechische Wort „Demokratie“ waren den Einwanderern natürlich nicht bekannt. Auf diesem Landtag zu Sichem, wie das Ereignis oftmals genannt wird, findet ein wirklich tiefgreifendes Ereignis statt. Eine Wahl. Zur Wahl steht, ob die Stämme, die in verschiedenen Gegenden des späteren Israel siedelten eine Gottheit annehmen oder ob lokale, vorfindliche, gegensätzliche Götter verehrt werden. Und hier entscheidet sich das Volk für den einen Gott, den Gott der Geschichte, den Gott der Befreiung aus Unterdrückung und Sklaverei, für den Gott der 10 Gebote. Mit dieser Entscheidung wird das Volk über Gegensätze hinweg zu einer Gemeinschaft. Das Volk Israel wird auf einer gemeinsamen Grundlage eine Gesellschaft, die im Gespräch bleiben kann. Diese Grundlage – wir wissen nicht ob per Hand abgestimmt wurde, per Zuruf oder mit Verneigung vor der Bundeslade mit den Tafeln der 10 Geboten darin – diese Grundlage braucht zur Bekräftigung nach Auffassung des Josua ein Symbol, eine symbolische Handlung. Wir sprechen bei den 10 Geboten von einer Menschheitsgrundlage, einer magna Charta, die zum Teil wortgleich auch in andere Religionen aufgenommen wurde. Neues, Verbindendes, den Menschen in seinen Rechten stärkendes braucht Symbole, braucht Zeichen, Zeichen, die die Zeit überdauern, Zeichen, die erfassen, wo die Sprache nicht mehr hinreichend feststellen kann, worum es geht, Zeichen, die gültige Symbole werden, weil sie über die Lebenszeit eines Menschen hinaus in die Zukunft weisen, Zeichen der Hoffnung sind!

                                                                   

Liebe Freunde des Friedensgebetes, ein Stein ist es hier, ein Stein, der für Unabänderliches steht, für Festigkeit – wie wir so sagen, in Stein gemeißelt, wie wir doch wissen, die 10 Gebote auf dem Berg Sinai auf Steinplatten einstmals verewigt. Im Moment des Ereignisses der Wahl nimmt Josua den Stein, der vor ihm unter einer alten Eiche steht und ruft alle auf: ihr seid Zeugen eurer eigenen Entscheidung. Ihr glaubt nicht Göttern, ihr glaubt dem unsichtbaren einen Gott, der hilft, der fügt, der Richtung gibt für ein befreites Leben. Und Josua spricht weiter: dieser Stein ist Zeuge unter uns, dass wir uns nicht abwenden und den Gott der Gebote verleugnen. Ein Stein? Ein Stein kann nicht sprechen, kann nicht hören, kann nicht bezeugen. Oh doch, wenn ihr ihn seht, Menschen, dann wisst ihr, dass ihr hier wart und wisst, was gilt und wisst, was euer Wort und Recht ist.

Der zerrissene Pass von Maryja Kalesnikawa ist Zeuge dafür, dass Menschen eine Wahl getroffen haben, für die Opposition in Belarus. Das blaue Klavier auf dem Europamaidan in Kiew ist Zeuge dafür, dass Europa ein gemeinsames Lied anstimmt. Das Kreuz in jeder Kirche ist Zeuge dafür, dass Menschen, indem sie es aufstellen und erblicken, der Macht des ewigen Lebens vertrauen. Der Aufnäher der Friedensbewegung ist Zeuge dafür, dass Schwerter wirklich zu Pflugscharen werden sollen. Die Nikolaikirche Leipzig ist Zeugin dafür, dass Revolutionen wenigstens auf einer Seite konsequent gewaltfrei bleiben müssen. Der Schriftzug „fridays“ ist Zeuge dafür, dass mehr und deutlich mehr die Lebensgrundlagen der Schöpfung zu schützen sind, damit nicht Todestage über die Menschheit kommen. Der riesige runde Kreis, gemäht über die gemeinsame polnisch-ukrainische Grenze, von Bauern aus beiden Ländern gemäht, nach der Orangenen Revolution und von Aktivisten mit Drohnen aus der Luft aufgenommen und verbreitet, ist Zeuge für die gemeinsame neue osteuropäische, europäische Welt voll Gefühl und Wucht der Freiheit, voll von Solidarnosc. Symbole, Lieder, Gebete sollen künden von einer Welt für alle. Dazu gehört auch, dass Europa sich nicht einmauern kann. Dazu gehört, dass es Menschen geben muss, die sich den schwierigsten Situationen stellen. Polizei, Politik, Presse. Dazu gehört eine Gesellschaft, die im Gespräch bleibt, die Erweiterung sucht, die hilft, den Pluralismus auszuhalten und zu mehren – aber nicht um diesen Preis, nicht um den Preis, Populisten und Wahrheitsverkürzern unwidersprochen das Feld zu überlassen. Es gehört sich, wie in der Losung des Tages gesagt, den falschen Gott des Nationalismus abzuschaffen.

                                                                

Der Landtag zu Sichem ist zu Ende gegangen, die Menschen sind zurückgekehrt in ihre Siedlungen. Gelten sie noch die 10 Gebote und die anderen verkündeten Rechtssetzungen? Liebe Mitstreiter, die 10 Gebote haben eine unverrückbare Mitte und die heißt mit dem 5. Gebot: du sollst nicht töten, du sollst leben. Leben: Wie ist ein aktives engagiertes Leben durchzuhalten? Es gibt doch dieses einschneidende Erleben, da war etwas vergeblich in den Bemühungen. Es gibt dieses, wenn du in Opposition stehst und Leute dann sagen: was soll denn das, willst dich nur wichtig machen? Ich denke an die Menschen in den Lazaretten der Ukraine und in den Gefängnissen von Belarus. Einigen aus der Bürgerbewegung 1989 überkommt manchmal dieser Schauer, es hätte auch passieren können, diese äußerste brutale Gewalt und Verfolgung. Wir sind verpflichtet das Lebens- und Freiheitsrecht derer, die im Osten unseres Kontinents leiden einzufordern und selbst etwas zu tun. Die weißrussische Schriftstellerin und Mitglied im demokratischen Koordinierungsrat ihres Landes Swetlana Alexijewitsch sagte in ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels: „Man kann sich der Realität nicht vollkommen annähern, zwischen der Realität und uns stehen Gefühle. Ich weiß, dass ich es mit Versionen zu tun habe, jeder hat seine eigenen Version, und daraus, aus ihrer Gesamtheit und ihrer Schnittmenge, entsteht das Bild der Zeit und der Menschen“. Denken wir an die politisch Verfolgten in den Gefängnissen, ihre Gefühle der Angst, das Ausgeliefertsein, ihr Lebensrecht. So sind wir bitte Zeugen: wir fordern die Freiheit der politischen Gefangenen in Belarus. Wir sagen dem Diktator: wir geben keine Ruhe. Belarussen und Deutsche sind Nachbarn in einem Haus. Wir wollen Gesellschaften, die im Gespräch sind, untereinander frei im Gespräch sind, fair wirtschaften. Liebe Friedensgebetsgemeinde! Die Steine der Nikolaikirche Leipzig haben alle Worte gehört, die Gott mit dem Menschen redet, Worte des Friedens. Das Lesen der Worte in der Bibel hilft beim Durchhalten – und die persönliche Beziehung zu Gott. Denn Gott bewohnt ein Zimmer in jedem Menschenkind. Amen.  

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