Die gestresste Seele
15. Juni 2020
Die Psyche in Corona-Zeiten – Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer
Von Dr. Kerstin Schimmel
In der letzten Zeit wurde viel über die wirtschaftlichen Kosten der Corona-Pandemie gesprochen. Doch es gibt ja auch eine seelische Seite der Krise: Sowohl die Pandemie selbst als auch die getroffenen Schutzmaßnahmen haben wahrscheinlich Folgen für die Psyche. Du beteiligst dich an der telefonischen Beratung von Menschen, die derzeit besonders belastet sind, der „Corona-Psycho-Hotline“ des Landes Baden-Württemberg. Was sind deine Erfahrungen?
Dr. Elmer: Die Hotline ist jetzt seit sieben Wochen am Start. Am Beginn standen vor allem Unsicherheit und Angstsymptome im Vordergrund der Beschwerden. Inzwischen sind es psychische Grunderkrankungen, die sich unter den Bedingungen der Pandemie verschlechtern, z.B. Psychosen. Eine statistische Auswertung von über 4000 Anrufen zeigt einen ähnlichen Trend.
Ich kann mir vorstellen, dass das damit zusammenhängt, dass am Beginn der Pandemie in der Bevölkerung eine große Unsicherheit herrschte, was auf uns zukommt; Ängste vor Ansteckung sicherlich auch. Und dass im Laufe der Zeit zunehmend auch die vermutlich veränderte medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen eine Rolle spielt.
Dr. Elmer: Das kann man so interpretieren. Es wird zurecht viel über aufgeschobene Operationen gesprochen oder dass Menschen aus Angst, sich anzustecken, die Abklärung körperlicher Beschwerden aufgeschoben haben. Für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen gilt das aber auch: Versorgungsangebote wurden ambulant und stationär reduziert, Behandlungen finden zum Teil eingeschränkt über Video- und Telefonkontakte statt, Tageskliniken mussten ihr Angebot zurückfahren. Und die Reduktion von privaten und therapeutischen Kontaktmöglichkeiten fördert das Gefühl der Einsamkeit, einem gewichtigen Risikofaktor für die Verschlimmerung seelischer Erkrankungen. Psychisch bedingte Antriebslosigkeit macht es depressiven Menschen generell schwer, ihren Tag zu strukturieren. Bricht die äußere Ordnung hier plötzlich weg, ist die Gefahr, instabil zu werden, groß.
Können neue Möglichkeiten wie eine Videosprechstunde nicht auch eine Bereicherung darstellen?
Dr. Elmer: Auf jeden Fall! Doch sie sind meines Erachtens nur eine Erweiterung der therapeutischen Klaviatur, kein Ersatz für den lebendigen Kontakt. Auch die Hotline kann keine Untersuchung durch eine Psychiaterin oder eine Therapie durch einen Psychotherapeuten ersetzen. Und für einen Videokontakt müssen bei den Hilfesuchenden auch die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sein, technisch und in Bezug auf individuelle Fertigkeiten. Einkommen und Alter sind hier wichtige Faktoren.
Die Einschränkung von Kontakten betrifft ja nicht nur psychisch Kranke. Gibt es Erkenntnisse über die Auswirkung des Lockdowns auf die Allgemeinbevölkerung?
Dr. Elmer: Berichte aus dem chinesischen Wuhan, aber auch aus Österreich, melden eine Zunahme von Ängsten und Schlafstörungen. Und jüngste Daten aus Großbritannien zeigen, dass vor allem depressive Verstimmungen und Konzentrationsstörungen während des Lockdowns zugenommen haben: Interessanterweise haben vor allem Jüngere Schwierigkeiten, mit Kontaktbeschränkungen umzugehen, und leiden besonders darunter. Andauernde Gefühle von Unsicherheit, Angst und Einsamkeit sind stressend und ein Risiko auch für Gesunde. Und wirtschaftliche Folgen wie Arbeitslosigkeit und Existenzsorgen können natürlich eine erhebliche psychische Belastung darstellen. Deshalb ist es auch aus psychologischer Sicht wichtig, soziale Risiken staatlich abzufedern.
Es wird vermutet, dass der Lockdown zu einem Anstieg häuslicher Gewalt und auch zu mehr Suizidversuchen geführt hat. Gibt es dazu schon Daten?
Dr. Elmer: Zunächst wurde ja von einer geringeren der Zahl polizeilicher Einsätze bei häuslicher Gewalt in Deutschland berichtet. Doch das heißt nicht automatisch, dass es auch tatsächlich weniger Gewalt gegeben hat. Die Weltgesundheitsorganisation hat im April für die europäischen Länder eine Zunahme von Notrufen von Frauen und Mädchen um bis zu 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr berichtet.
Was Suizide betrifft, lässt sich zumindest bisher noch kein Anstieg feststellen. Es wird jedoch berichtet, dass Nachforschungen zum Vorfeld von Suiziden, sogenannte psychologische Autopsien, auch auf übermäßige Ängste gestoßen sind, an Corona zu erkranken.
Muss man denn vor dem Hintergrund psychischer „Nebenwirkungen“ die strikten Corona-Schutzmaßnahmen kritisieren, wie es derzeit diskutiert wird?
Dr. Elmer: Es ist auf jeden Fall sinnvoll, vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen zu analysieren, wie Schutzmaßnahmen bei einer eventuellen zweiten Infektionswelle noch gezielter ansetzen können, um negative Folgen zu minimieren.
Nicht vergessen sollten wir aber, dass auch die Pandemie selbst psychische Folgen hat: Dazu gehören Ängste und Trauer bei den Angehörigen; bei den Menschen, die Covid-19 überstehen, bisweilen Traumatisierungen. Und auch erhebliche seelische Belastungen für das betreuende Personal.
Eine britische Studie geht davon aus, dass der Lockdown in elf europäischen Ländern bisher etwa drei Millionen Menschenleben gerettet und noch weit mehr Infektionen verhindert hat. Selbst wenn die Zahl deutlich niedriger liegt, wäre das ein großer Erfolg – auch im Hinblick auf verhindertes seelisches Leid.
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