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Rückfall in alte Muster? – Das Virus als Brennglas für Ungleichheiten


6. Juli 2020

Fragen an den Psychologen Dr. Olivier Elmer

Von Dr. Kerstin Schimmel

 

Von dem Aphoristiker Manfred Hinrich stammt der Satz: „Neue Rechte bezahlt die Frau mit alten Pflichten“. Da scheint mir etwas dran zu sein. Denn zwar haben wir viele hehre geschlechtergerechte Grundsätze und „gegenderte“ Formulare – doch in Zeiten von Corona scheinen sich alte Rollenmuster wieder zu verfestigen. Wie wird das aus sozialwissenschaftlicher Sicht gesehen?

Dr. Elmer: Zwischenergebnisse einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin zeigen, dass Frauen seit Beginn der Pandemie unzufriedener mit ihrer Situation sind als Männer. Im Zeichen von Homeoffice und Homeschooling scheinen traditionelle Rollenmuster sich wieder zu verfestigen; eine Untersuchung aus Bielefeld anhand von Tagebuch-Blogs legt das nahe. Mir scheint, dass unter den Bedingungen der Pandemie alte Ungleichheiten gleichsam wie unter einem Brennglas sichtbarer werden. Haben die einen den Lockdown als Chance zur Entschleunigung empfunden, weil sie finanziell gut abgesichert sind, müssen andere um ihre Existenz fürchten. Und auch in Bezug auf Geschlechterrollen erleben wir, wenn auch nicht durchgängig, ein Revival alter Muster. In Zeiten der Unsicherheit wirken alte Beharrungskräfte oft besonders stark, weil Gewohntes Sicherheit vorgaukelt.

 

In Beziehung auf berufliche Tätigkeiten gab es ja bereits vor Corona Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Dr. Elmer: Frauen sind in geringerem Umfang erwerbstätig, was auch mit der hohen Quote an Teilzeitbeschäftigungen zusammenhängt. Ihre Erwerbsbiographien sind öfter unterbrochen, und sie werden viel häufiger unter ihrer Qualifikation beschäftigt. Ihr Anteil an sogenannten systemrelevanten Berufen liegt bei etwa 75 Prozent: Sie verrichten Tätigkeiten, die dringend gebraucht werden, vom Supermarkt über Altenpflege bis hin zur medizinischen Versorgung und Bildung. Gleichzeitig verbringen sie deutlich mehr Zeit mit Hausarbeit und Kinderbetreuung – obwohl es da durchaus Veränderungen in den letzten Jahren gegeben hat.

 

Mein Eindruck ist allerdings, dass in den östlichen Bundesländern Frauen häufiger in Führungspositionen vordringen.

Dr. Elmer: Ja, hier besteht ein deutliches Gefälle. Der Westen hat da eindeutig einen größeren Nachholbedarf – hier sollte er vom Osten lernen!

 

Gleichzeitig sind die Versorgung von Kindern und die Pflege von Angehörigen immer noch vorwiegend weibliche Aufgaben. Aufgaben, die materiell wie sozial wenig wertgeschätzt werden und bei denen es im Hinblick auf eine faire Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern immer noch hapert. Krisenzeiten könnten ja auch, optimistisch gewendet, die Chance bieten, daran etwas zu ändern.

Dr. Elmer: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die sogenannten „Trümmerfrauen“ hoch angesehen, Frauen erhofften sich davon einen Schub in Richtung Gleichberechtigung. Doch das ist leider schnell verpufft. Dennoch gibt es natürlich die Möglichkeit, dass Paare neue Formen der Arbeitsteilung erfolgreich ausprobieren und beide damit zufrieden sind. Statistisch gesehen, ist Kinderbetreuung zu 50% Aufgabe der Frau, zu 25% die der Männer und zu 25% eine gleich geteilte Aufgabe. Und je höher das Einkommen, desto weniger traditionell die Rollenaufteilung – was zeigt, dass es nicht nur um guten Willen geht, sondern auch um strukturelle Voraussetzungen. Allerdings: auch im Forschungsbereich gibt es die Gefahr einer Rolle rückwärts. Die Wissenschaftsjournalistin Carolin Wiedemann berichtet, dass seit Beginn der Pandemie der Frauenanteil bei der Einreichung wissenschaftlicher Texte deutlich abgenommen habe.

 

Die Perspektive ist ja wahrscheinlich sehr davon abhängig, wer gefragt wird…

Dr. Elmer: Von einer der bekanntesten Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, Marie von Ebner-Eschenbach, stammt der schöne Satz: „Wenn eine Frau sagt jeder, meint sie: jedermann. Wenn ein Mann sagt jeder, meint er: Jeder Mann.“ Natürlich hat jede oder jeder aus ihrem oder seinem Rollenverständnis und -erleben eine spezifische Sicht auf die Welt. Doch die männliche Perspektive ist sicherlich die dominierende. Deswegen ist die klassische Rollentheorie kritisiert worden: weil sie zu wenig reflektiert, welche Machtmechanismen mit sozialen Rollen einhergehen. Und aus identitätstheoretischer Perspektive ließe sich gegen unser Interview einwenden, es sei unangemessen, dass ich als Mann überhaupt versuche, über die Erfahrungen von Frauen zu sprechen.

 

Weil das eine Anmaßung wäre und aus dieser Sicht nur Frauen Frauen verstehen und für diese sprechen können?

Dr. Elmer: Ja. Und da ist natürlich auch etwas dran. Aber wenn das zu Ende gedacht wird, wird es schwierig, miteinander zu diskutieren. Außerdem glaube ich, dass eine radikale Identitätspolitik in eine Sackgasse führt, weil nur noch die persönliche Erfahrungswelt im Vordergrund steht und vor allem formale Mechanismen und Sprachregelungen ersonnen werden, um verschiedene Gruppen diskriminierter Menschen zu schützen.

 

Und was ist da das Problem? Dass benachteiligte Gruppen für sich selbst sprechen oder dass eine angemessene Sprache, die ja unser Denken prägt, gewählt wird, das sind ja keine abwegigen Gedanken …

Dr. Elmer: Sicher. Doch die gesellschaftliche Basis von Ungleichbehandlung – egal, welcher Art – droht damit aus dem Blickfeld zu geraten. Die Demokratische Partei in den USA hatte genau das Problem, dass sie soziale Ungerechtigkeiten so aus dem Blick verloren hatte. Was ihr und uns dann den Frauenfeind Trump beschert hat.  Doch wenn wir zum Beispiel den Druck erhöhen, faire Gehälter in der Altenpflege zu zahlen, oder es als selbstverständlich ansehen, dass Frauen in Leitungspositionen arbeiten, dann kann das die Gesellschaft nachhaltig verändern. Eine Bischöfin im Amt ist ein lebendigeres Modell als ein schöner kirchlicher Text über Gleichberechtigung. Und sie wird mehr verändern, als kluge Statements wohlwollender Männer. Mich eingeschlossen.

 

Müssen dafür nicht auch die Männer ihre Rolle überdenken?

Dr. Elmer: Ja, und es kann ja durchaus befreiend sein, sich nicht tradierten Vorstellungen von Männlichkeit zu unterwerfen. Auch Männer können sich ja emanzipieren!

 

 

Illustration: Oberholster Venita auf Pixabay

Ein Kommentar zu “Rückfall in alte Muster? – Das Virus als Brennglas für Ungleichheiten”

  1. Hans-Christian Trepte schrieb am 09.07.2020 um 14:20 Uhr:
    Die Pandemie hat tatsächlich unseren Blick auf vieles bereits zuvor im Üblen Liegende geschärft. Die Emanzipation der Frau und ihre Stellung in der Gesellschaft, von Feministinnen hart erkämpft, ist keinesfalls selbstverständlich; es reicht sich in der unmittelbaren Nachbarschaft umzuschauen und einen Vergleich zu wagen. Tatsächlich war die DDR, was die Gleichberechtigung der Frauen betrifft, auch vorbildlich. Das betraf in erster Linie die sehr hohe Zahl beruflicher Frauen, aber auch die Unterstützung alleinerziehender Mütter - ganz im Gegensatz zu den tradierten Vorstellungen, die den Frauen von Männern zugewiesenen wurden, nämlich die drei großen Ks. In der DDR war eine von (alten) Männern "verordnete Gleichberechtigung" (Anna Kaminsky) mit zum Teil großzügigen sozialpolitischen Maßnahmen und entsprechenden Programmen zwar eine Emanzipation, sie bedeutete aber häufig auch eine Doppelbelastung. Zu hinterfragen ist, ob das in der sozialistischen Kunst seinerzeit verwirklichte männlich-weibliche Frauenbild unseren heutigen ästhetschen Vorstellungen gerecht werden kann? Häufig entsprachen jene muskulösen Heldinnen (der sozialistischen Arbeit) eher den damaligen politisch-ideologischen Erwartungen eines dogmatisch aufgefassten sozialistischen Realismus. Auch die polarisierenden, zumeist idealisierten Vorstellungen von den Trümmerfrauen bedürfen einer gewissen Revision, einer Verifizierung wie in Leonie Trebers Buch "Mythos Trümmerfrauen"; für interessierte "Lesende" sicher eine spannende Lektüre... Und wie sieht es mit der Gendergerechtigkeit aus? Ist eine geschlechterspezifische Sprache bei allen drängenden Problemen tatsächlich so essentiell? Geht es darum einer Minderheit von "Feminisierenden" eine entsprechende sprachliche Satisfaktion zu verschaffen? Mit Jan Weiler möchte ich sagen: Ich lasse mir "nicht vorschreiben, wie ich schreiben soll" und ich wehre mich auch dagegen, dass meine Text "durchgegendert" werden. Die gepflegte (literarische) Sprache hat zweifelsohne einen künstlerisch-ästhetischen Wert, gerade was die Dichtkunst von Dichtern (und nicht Dichtenden!) betrifft. Für mich sind Studenten und Studentinnen eben nicht geschlechtsneutrale Studierende, übrigens ein grammatikalisch nicht korrektes Wort. Das Partizip Präsens beschreibt etwas, was in einem Augenblick getan wird und nicht den Status Student, Studentin zu sein. Hinzu kommen des Weiteren negative Konnotationen, ein Dozent, eine Dozentin unterscheidet sich m.E. deutlich von einem/einer Dozierenden. Und wenn die umstrittene taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah weder weiblich noch männlich sein will, sich vielmehr als "nichtbinär" begreift, dann ist das ihr eigenes Problem. Sollte sie deshalb in dem von ihr abgelehnten "Kartoffelland" mit dem "hässlichen Adler" das Sonderrecht auf eine "nichtbinäre" deutsche Sprache bekommen?

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