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Tagung digital: Estland – der singende baltische Tiger


2. April 2020

Seit im Juni 1988 tausende Esten an der Sängertribüne der Hauptstadt Tallinn Lieder für die Unabhängigkeit gesungen haben, hat sich Estland rasant entwickelt und den demokratischen Aufbruch gewagt – durchaus mit Rückschritten und politischen Einbrüchen, vor allem aber mit Mut und großer Begeisterung. Es sind überwiegend junge Intellektuelle, die nach wie vor ihre Stimme erheben; (durchaus) beim Sängerfest, vor allem aber über die neuen Medien.

Wie die estnische Bevölkerung mit Mythen, Liedern und Hightech für (und auch gegen) Demokratie agiert, wollten wir vom 3. bis 5. April betrachten. In Zeiten von Corona muss diese Veranstaltung aber vernünftigerweise ausfallen.

Uninformiert sollen Sie aber nicht bleiben, daher finden Sie hier„Estland – Ein Kurzportrait“  von Karin Hanig sowie den Vortrag „Im Fegefeuer – Estland mon amour“ von Dr. Hans-Christian Trepte.

Dr. Kerstin Schimmel

 

 

Estland – Ein Kurzporträt

Von Karin Hanig

Das Land in Zahlen und Fakten

 

Offizielle Bezeichnung:  Republik Estland (Eesti Vabariik)

Gesamtfläche:              45.339 Quadratkilometer (etwa wie Dänemark)

Einwohner 2019:           ca. 1,3 Millionen (29 Ew./km2; zum Vergleich BRD 232 Ew./km2)

xMonatseinkommen:   1.119 EUR brutto in 2018 (BRD: 3.770 EUR brutto in 2017)

Hauptstadt:                  Tallinn (Reval), zugleich die größte Stadt des Landes (rund 450.000 Ew.)

Landschaft:                  40-50 % Wald unterschiedliche Angaben, 20 % Sümpfe und Seen (rund 1.400 Seen), 5 Nationalparks, 3.800 km Küste

Nationalflagge:

drei Querbalken: Blau für Vertrauen und Treue (estn. Himmel), Schwarz für Vergangenheit (heimatlicher Boden), Weiß für lichtvolle Zukunft (Schnee)

Währung:                      Euro seit 2011

EU-Beitritt:                    2004

NATO-Mitgliedschaft:    2004

Grenzen:                      Ostsee, Finnischer Meerbusen, Russland, Lettland

xLebenserwartung:      76,8 (68,58) Jahre bei Männern, 81,2 (79,4) Jahre bei Frauen

Arbeitslosigkeit:            5,4 % in 2018

Minderheiten:                Russen (25,48 %), Ukrainer (2,05 %), Weißrussen(1,14 %), Finnen (0,78)

Religion:                      überwiegende Mehrheit konfessionslos, rund 10 % ev.-luth., rund 10 % orthodox (Glaubensflüchtlinge aus Russland vor rund 350 Jahren) in 2017

Staatsform:                  parlamentarische Demokratie (mit zersplitterter Parteienlandschaft)

Präsidentin:                  Kersti Kaljulaid

 

 

Eine lange Geschichte in Stichworten – Auswahl

Um 4000 v. C.  Finno-ugrische Stämme aus dem Ural siedeln sich an.

  1. bis 5. Jh. Goldenes Zeitalter dank Bernstein, wichtige Handelswege entstehen.
  2. Jh. Jahrhunderte währende Vorherrschaft der Deutschen beginnt; Lübeck als Ausgangspunkt der Kolonisierung des Baltikums

Anfang 13. Jh.  Schwertbrüderorden wird gegründet; zusammen mit dem ihm nachfolgenden Deutschen Orden wird Nordeuropa von beiden erobert und christianisiert.

Bis Mitte des    Alle bedeutenden Städte des Baltikums werden gegründet, ca. 200 Burgen entstehen;

  1. Jh. Narva ist die östlichste Festung des Deutschen Ordens.
  2. Jh. Reval (Tallinn) ist vorrangig von Deutschen besiedelt, erhält Lübisches Recht, wird Mitglied der Hanse und blüht auf; auf dem Land herrschen vorrangig adlige deutsche Grundherren mit leibeigenen Bauern.

Anfang 16. Jh.  Die Reformation erhält bei der Landbevölkerung große Zustimmung, die Bibel wird ins Estnische übersetzt, Predigten werden in Estnisch gehalten, beides ist eine Grundlage für Schriftsprache und Grammatik.

1621                 Gustav II. Adolf von Schweden besetzt Estland; 100 Jahre unter schwedischer Herrschaft

1700-1721         Peter der Große vertreibt die Schweden im Nordischen Krieg.

1721-1918         Estland ist russische Ostseeprovinz mit deutscher Ratsverfassung,

in der Bevölkerung bilden Deutsche die Mehrheit; Reval ist ein wichtiger Hafen für den russischen Außenhandel.

1816-1819         Zar Alexander I. setzt Agrarreformen durch, Freiheitsrechte (aber kein Grundbesitz) für Bauern

1869                1. Sängerfest in Tartu als Zeichen kultureller Eigenständigkeit

1905                 Estnisch-lettische Revolution nach der Niederlage Russlands im russisch-japanischen Krieg gegen die deutsche Vorherrschaft

1918-1940         Unabhängigkeit nach Zerfall des russischen Reiches (1920 von Russland

anerkannt).

1939                 Hitler-Stalin-Pakt mit geheimem Zusatzprotokoll: Baltikum als sowjetische ‚Interessenssphäre‘ festgeschrieben

1939                 „Heim-ins-Reich“-Aufruf in Deutschland an „Volksgenossen“ in Estland, fast alle Deutschbalten folgen mehr oder weniger freiwillig; 48 Transportschiffe zur Umsiedlung

1940                 Okkupation und Besetzung Estlands durch die UdSSR.

1941-1944         Okkupation und Besetzung Estlands durch Deutschland danach bis 1991 wieder unfreiwillig Teil der Sowjetunion

1987-1991         Die „singende Revolution“

1991                 Bei einem Referendum zur Unabhängigkeit des Landes stimmen 78 % dafür.

1994                 Die letzten russischen Truppen verlassen das Land.

2003                 Bei einem Referendum zum EU-Beitritt stimmen 67 % der Bevölkerung dafür.

 

Einblicke

Estland ist Vorreiter bei der Digitalisierung in Europa. Ein Grund: wenig Hierarchien, viel Transparenz der staatlichen Organe, moderne Kommunikationstechnik. Zugang zum Internet ist gesetzlich garantiert; kostenlose öffentliche Internetstellen (schon 2004 hatten 93 % der Bevölkerung ein Handy).

Estland gilt als das am meisten westlich orientierte Land des Baltikums.

Gastfreundlich empfängt es seine Besucher mit „Tere tulemast!“ (herzlich willkommen).

Seine Geschichte ist über Jahrhunderte von Deutschen, Schweden und Russen geprägt. Estnisch – die Amtssprache – ist mit dem Finnischen verwandt und seine Beherrschung ist Voraussetzung für einen Job im öffentlichen Dienst (latenter Konflikt mit dem Viertel russischer Bevölkerung).

 

 

Im Fegefeuer – Estland mon amour

Von Hans-Christian Trepte (Leipzig)

 

Aus westeuropäischer Sicht scheint Estland ein ebenso exotischer und unbekannter Ort wie das ferne Japan zu sein, mit dem man zwar gewisse stereotype Vorstellungen verbindet, über den man jedoch recht wenig weiß. Diesen Tatbestand hat der estnische Lyriker Juhan Viiding ironisch mit einer Gedichtzeile kommentiert: „Japan ist weit, Estland noch weiter.“

Diesen eigentlich nur scheinbar weit entfernten Ort möchte ich mich kulturgeschichtlich nähern und zwar auch in Gestalt einer Liebeserklärung, so wie es Peter Petersen mit seinem Essay Estland: Meine Begegnung mit einem widerständigen Volk. Eine Liebeserklärung getan hat. Sibylle Tiedemann wiederum hat mit ihrem Film Estland – mon amour (2005) eine vergleichbare Liebeserklärung gemacht. Nach dem Tod ihres Bruders war sie nach Estland aufgebrochen, um die mysteriösen Umstände seines Ablebens in seinem selbstgewählten estnischen „Paradies“ aufzuklären. Es war eine Reise in ein anderes, weitgehend unbekanntes Land, in eine andere Geschichte, Kultur und Lebensform scheinbar fremder „Naturmenschen“.

Auf ihren Erkundungen zwischen Tallin und Narva entdeckt sie die Großartigkeit des Landes, seine bezaubernden Landschaften und zahlreiche interessanten Menschen. „Komm mit, ich zeige Dir mein Sommerland! Weißt du, wo Estland überhaupt liegt? Mittendrin im Leben“, eine Aufforderung des großen Bruders an die kleine Schwester aus Tiedemanns Film mag auch eine Einladung an all jene sein, die sich auf eine interessante Reise nach Estland begehen möchten.

Die von der Kette gelassene Geschichte hat Land und Leute immer wieder böse heimgesucht; im Zweiten Weltkrieg hat Estland ein Viertel seiner Bevölkerung verloren und hunderttausende Esten wurden in Folge stalinistischer „Säuberungen“ in die sowjetischen Gulags deportiert. Darüber schreibt u.a. die finnisch-estnische Schriftstellerin Sofie Oksanen in ihrem Roman Pudistus (2007), in deutscher Übersetzung Fegefeuer (2010). Hinzu kommt das Schicksal ethnisch-kultureller Minderheiten, u.a. der Juden, Schweden und Baltendeutschen im Verlauf der „baltischen Tragödie“ (Siegfried von Fegesack, 1975).

Auch mir liegt dieses, scheinbar einem Tupfer am Rande des Weltgeschehens gleichende Land am Herzen. Spätestens seit 1968 gehört mit dem so hoffnungsvoll begonnenen Prager Frühling und dem Widerstand der „kleinen“ Völker der Tschechen und Slowaken gegen den Einmarsch des „großen Bruders“ und seiner Vasallen meine ungeteilte Bewunderung und Sympathie denjenigen Ländern, Völkern und Kulturen in Europa, die sich in ihrer Geschichte immer wieder gegen die Übermacht von Großmächten zu wehren und zu behaupten wussten. David gleich nahm jenes „kleine“ Estland den Kampf gegen den übermächtigen Goliath auf, begehrte auf gegen Unfreiheit, Übermacht, Unterdrückung und aufgezwungene  Ideologien.

Vor der friedlichen Revolution in der DDR im Jahre 1989 waren es die Polen und die Balten, die für ihre Freiheit, Demokratie und menschliche Würde zuerst kämpften. Gemeinsam mit ihren unterschiedlichen, doch in ihrem historischen Schicksal mit einander verbundenen baltischen Brüdern, den Letten und Litauern, wehrten sich die Esten mit ihren Gesängen friedlich gegen die übermächtige Sowjetmacht. Besonders beeindruckend war die riesige, 600 Kilometer lange singende Menschenkette, die sich durch alle baltischen Länder erstreckte.

Es waren Kerzen, Blumen, Lieder, Gebete und Gesänge, die uns in unserem friedlichen Protest in den Schicksalsjahren 1988-1990 eng miteinander verbanden. Seinerzeit rückte ein Land, ein Volk, eine Kultur in greifbare emotionale Nähe. Estland mit seiner bewegenden Geschichte, seiner reichen Kultur, seinen vieljährigen Tradition und seiner reichen Literatur befindet sich in einem geographischen Streifen zwischen Oder und Peipus-See, zwischen der heutigen deutschen Ost- und der russischen Westgrenze; dabei trennt der Peipus-See zwei Länder, Kulturen und Mentalitäten voneinander, Estland an seinem westlichen Ufer und Russland am östlichen.

Es ist ein Gebiet in unserem „heimatlichen Europas“ (Czesław Miłosz), das sich zwischen den beiden Staaten befindet, von denen „im 20. Jahrhundert jene katastrophalen kataklysmischen Beben ausgegangen sind, die das Antlitz Europas (und weit darüber hinaus) nachhaltig und von Grund auf verändert haben.“ (Sinnig, Trepte, S. 415). Zwischen beiden Epizentren gelegen, stießen hier die Schockwellen und Nachwehen epochaler Erschütterungen besonders heftig aufeinander, sie überlagerten, verzahnten sich und resonierten miteinander. Es ist eine von der Geschichte, von Kriegen, Vernichtung und Deportationen immer wieder heimgesuchte Region, die durch ihr „Dazwischensein“ definiert wird, ohne eigentlich eine eigene innere Kohäsion aufzuweisen, lediglich verbunden durch die deutsch-russisch-baltische Klammer.

Entfällt diese Klammer, dann zerfällt auch dieses „Zwischenland“ in beständigere Regionen wie Nordeuropa (Skandinavien), Mittel- und Osteuropa, ebenso wie in unterschiedliche Glaubensrichtungen, Sprachen, Kulturen, Traditionen und Mentalitäten. Seit der Zeit der Hanse gab es allerdings im Baltikum auch eine ähnliche, miteinander vergleichbare Geschichte. Wie auch Mitteleuropa pflegte das Baltikum intensive Kontakte zu den östlichen Nachbarn, vor allem zu Russland bzw. der Sowjetunion, die beide die baltischen Länder in ihr Kolonialreich einverleibten.

So manifestierte das zaristische Russland seinen Machtanspruch, seine Herrschaft Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Bau einer großen russisch-orthodoxen Kirche auf dem Schlossplatz des Dombergs im Herzen der estnischen Hauptstadt Tallinn. Nicht zufällig wurde sie Alexander Newski geweiht, jenem russische Fürsten und Feldherren, der die deutschen Kreuzritter im 13. Jahrhundert auf dem zugefrorenen Peipus-See geschlagen hatte. Anders als die Polen in Warschau mit der im Herzen der Stadt gelegenen gleichnamigen russisch-orthodoxen Kathedrale verfuhren, rissen die Esten das Symbol russischer Fremdherrschaft nach dem Wiedergewinn ihrer Unabhängigkeit nicht ab.

Weitaus enger fühlten sich die Balten kulturell und politisch mit dem Westen bzw. Estland mit dem (skandinavischen) Norden Europas verbunden. Die zum Teil ostentativ hervorgehobene Zugehörigkeit zum Westen wurde mit dem Zerfall des Sowjetreiches und der Wiedergewinnung der staatlichen Unabhängigkeit, dem Beitritt zur EU und NATO endgültig besiegelt. Allerdings blieben Bedrohung und der Druck des übermächtigen Nachbarn im Osten auch weiterhin deutlich spürbar.

Erinnert sei hier lediglich an die Verlegung des sowjetischen Bronzesoldaten, des Denkmals für die „Befreier“ der estnischen Hauptstadt aus dem Zentrum der Stadt auf einen Soldatenfriedhof am Rande der Stadt, die 2007 zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Staaten Estland und Russland, der estnischen Bevölkerung und der russischen Minderheit führte. Die Esten wollten die Erinnerung an die sowjetische Herrschaft an den Rand ihres Bewusstseins drängen, während die russischsprachige Bevölkerung in den sowjetischen Soldaten weiterhin ihre Befreier von der Naziherrschaft sahen.

Ganz ähnlich wie im gesamten östlichen Europa kommt dem gesprochenen, geschriebenen und gesungenem Wort in Estland eine besondere Bedeutung zu, für das „gelebt, gelitten, gestorben, vertrieben, emigriert und nicht zuletzt auch gezahlt worden“ ist (Sinnig / Trepte S. 416). Literatur hat getröstet, hat Mut, aber auch Angst gemacht, sie wurde gedruckt, zensiert, verboten, geschmuggelt, versteckt, vernichtet, rekonstruiert und wieder aufgefunden. Dabei reagiert die Literatur zwischen Oder und Peipus-See mit vielfältigen kleinen Geschichten (stories) besonders sensibel auf die omnipräsente große Geschichte (history); und so schreiben ihre Repräsentanten bewusst gegen das große Schweigen bzw. Verschweigen, gegen Tabus, Verfälschtes und Verdrängtes an.

Aus diesem Grunde gilt folgende Maxime: Will man die estnische Kultur, Literatur und Mentalität verstehen, dann muss man sich mit der Kulturgeschichte, dem nationalen Erbe wie auch den Traditionen dieses Landes näher vertraut machen. Eine herausragende Rolle spielt dabei das estnische Liedgut, die zunächst nur mündlich überlieferten Gesänge und Mythen. Mag es auch ein dem estnischen Selbstbewusstsein guttuender Mythos sein, dass die estnischen Lieder älter als die ägyptischen Pyramiden sein sollen, Tatsache bleibt, dass die estnische Literatur und Kultur auf einem sehr alten und bis heute äußerst lebendigem Liedgut basiert, das zu einem wichtigen Garant estnischer kultureller Identität geworden ist.

Immer dann, wenn die estnische Sprache und Kultur besonders bedroht war, bestärkten sich die Esten in ihrem Sein durch gemeinschaftliches Singen. Dabei spielt der Westen, d.h. kulturgeographisch gesehen die Nachbarn im Norden, mit Schweden und Finnland an erster Stelle, eine herausragende Rolle. Das finnische Nationalepos von Elias Lönnrot, Kaleva (1835), das übrigens ähnlich wie die Märchen der Gebrüder Grimm entstand, war Vorbild für das spätromantische estnische Nationalepos Kalevipoeg (Sohn des Kalev, 1857) von Friedrich Heinrich Kreutzwald, dem Vaters der estnischen Literatur.

Das 20.000 Verse zählende monumentale Werk vermittelte den Esten einen Gründungsmythos, eine eigene Geschichte wie auch eine verbindende Identität, zugleich auch die Hoffnung, dass der bärenstarke Hüne eines Tages zurückkommen wird, um sein teures Volk zu befreien und ihm das ersehnte Glück zu bringen. Und so war es nur logisch, dass der nach Estland heimkehrende Held Kalevipoeg gegen Ende des 20. Jahrhunderts zum Symbol der „Singenden Revolution“ von 1988 geworden war und Estland 1991– wie auch Lettland und Litauen – endlich seine Unabhängigkeit erringen konnte.

Bereits zuvor, 1869, war auf dem ersten Sängerfest von Tartu, dem Ausgangspunkt der estnischen nationalen Wiedergeburt, Kalevipoeg zu einem Fanal für die nationale Unabhängigkeitsbewegung in ganz Estlands geworden: „Bewahrend die Schönheit des Vaterlandes, kämpfend gegen den Feind!“ Und so wurde die erste Unabhängigkeit Estlands im Jahre 1918 auch mit dem Singen verbotener estnischer Lieder errungen.

An einem Septembersonntag des Jahres 1988 versammelten sich Dreihundertausend Esten, von sowjetischen Panzern umstellt, auf dem Sängerfestplatz von Tallinn. Indrek Toome, der letzte Regierungschef der Sozialistischen Sowjetrepublik Estland, schloss seinerzeit das Sängerfest mit folgenden Worten: „Ehe wir Esten aufhören zu singen, werden die Bäume blattlos, die Meere ohne Fische und alle Bäche ohne Wasser sein!“ Zwei Jahre später war es ein gewaltiger Chorus von ca. einer halben Million Sängern, mehr als ein Drittel der estnischen Bevölkerung, der die estnische Nationalhymne Mu isamaa (Mein Vaterland) anstimmte:

Mein Vaterland, mein Glück und Freude, / wie schön bist du! / Ich finde nichts / auf dieser großen weiten Welt, / was mir so lieb auch wäre, / wie du mein Vaterland! // Du hast mich geboren und aufgezogen; / Dir danke ich immer / und bleib dir treu bis zum Tod, / mir bist du das Allerliebste, mein teures Vaterland! // Über dich wache Gott, / mein liebes Vaterland! / Er sei dein Beschützer / und möge reichlich segnen / was du auch immer unternimmst, / mein teures Vaterland.

Die Melodie der Hymne wurde 1848 von dem nach Finnland übergesiedelten Hamburger Komponisten Friedrich Pacius (1809-1891) geschrieben und wurde als Maamme 1917 auch zur finnischen Nationalhymne. Den Text verfasste Johann Voldemar Janssen. Das Singen der verbotenen Nationalhymne wurde während der sowjetischen Besatzung hart bestraft. Mit der wiedererrungenen Unabhängigkeit am 20. August 1991 waren Text und Lied erneut zum Hymnus des freien Estlands geworden.

Lediglich verwiesen sei an dieser Stelle auf die literarischen Werke des großen alten Mannes der estnischen Literatur, Jaan Kross (1920-2007), der 1946 verhaftet und nach Sibirien deportiert worden war, wo er als politischer Gefangener (1947-1951) und Verbannter (1951-1955) ausharren musste. Bekannt geworden ist Kross neben seinen Gedichten vor allem durch seine historischen Romane zu estnischen Themen, zumeist in enger geschichtlicher Verbindung mit den Geschicken der Russen und Balten-Deutschen; und so gilt sein Roman Der Verrückte des Zaren (1988, 1990) über den deutschbaltischen Adligen Timotheus Eberhard von Bock als Kross‘ wohl bekanntester Roman.

Der Fall des Eisernen Vorhangs und die Unabhängigkeit des Landes hatten in der estnischen Literatur eine neue Sicht auf das eigene Volk, die Geschichte, aber auch einen neuen Blick auf das „Fremde“, „Andere“ und „Andersartige“ gebracht. Die Literatur musste jetzt nicht mehr der Aufgabe nachkommen, eine gesellschaftliche Kraft von existentieller Bedeutung zu sein.

So meinte der estnische Schriftsteller Emil Tode (eigentlich:Tunõ Õnnepalu), der auch unter dem Pseudonym Anton Nigov publiziert und zu Beginn der neunziger Jahre auf dem ersten Platz der estnischen Bestsellerliste stand, dass unter den neuen gesellschaftspolitischen Bedingungen nur noch Bücher geschrieben werden könnten, in denen es außer dem eigenen Ich keine weiteren Charaktere mehr geben sollte. Die estnische Literatur versucht sich allerdings weiterhin auch der Brüche, Tabus und neuen Entwicklungstendenzen anzunehmen, einen Platz für sich in einer scheinbar grenzenlos gewordenen Welt zu finden.

Zunehmend neu verhandelt wurde jetzt auch das Verhältnis von Esten, anderen Völkern und Kulturen, den Juden, Russen und Deutschen wie auch die Beziehungen zwischen dem europäischen Osten und Westen. Exemplarisch verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf einen Roman von verblüffender Aktualität, der in Estland wie auch international auf große Resonanz stieß und in mehr als 12 Sprachen übersetzt wurde. Es ist Emil Todes Piiririik aus dem Jahr 1993, der 1997 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Im Grenzland erschien. Tode verlegt die Handlung seines Romans in die Metropolen Westeuropas, wo sein namenloser Protagonist aus dem fernen Nordosten, dort wo die „Sonne ein rarer Diamant ist“ (S. 12) zu einem Fremden wird.

Dabei ist er im doppelten Sinn ein Außenseiter, durch seine östliche Herkunft und durch seine Homosexualität. Hier im Westen, wo sich vor ihm „alle erdenklichen Gaben der Sonne“ ausbreiten (S. 10) wird er als ein exotischer, bestenfalls „edler Wilder“ angesehen. Die Sünden der glitzernden westlichen Welt mit ihrer Verschwendungssucht und Vergeudung, ihrem Konsumrausch und Individualismus faszinieren zunächst den Exoten, der aus einem „Land aus dem vorigen Jahrhundert“ zu kommen scheint, sie erfüllen ihn zugleich aber auch mit Ablehnung, Widerwillen, ja Ekel. Und so verharrt er in einem Zustand des Dazwischensein, in einem „Grenzland“ zwischen der alten Welt, aus der er kommt und der neuen Welt, in der er nicht ankommen kann.

Bewusst bedient sich der Erzähler stereotyper Klischeevorstellungen. Allerdings sieht der Autor die Gründe für die gestörte Kommunikation zwischen Ost und West in falschen Vorstellungen, die sich die Bewohner der einst feindlich gegenüberstehenden Hemisphären voneinander gemacht haben, und so verweist er darauf, wie stark gerade Vorurteile weiterwirken, wie zerstörerisch ihre Macht sein kann. Bei seinem Protagonisten lösen sie ein „Borderline-Syndrom“ aus und führen zu einer schizophrenen Aufspaltung in mehrere Identitäten.

Für Tode selbst ist jeder Mensch eine ganze Welt für sich… mit seinem Osten und seinem Westen, mit seinem Konsumrausch und seiner Freiheitssehnsucht, mit seiner Engbrüstigkeit und seinen Weiten, mit seiner Sehnsucht nach einem Leben in einer grenzenlosen, sinnlich erleb- und wahrnehmbaren schönen, einfachen Welt. Es mag kaum überraschen, dass es in der zeitgenössischen estnischen Literatur seit den neunziger Jahren auch zahlreiche Rekurse auf die estnische Identität und Befindlichkeit in der Welt, auf die Sängerfeste, aber auch auf das estnische  Nationalepos und dessen Helden gibt. Dabei wird versucht sich zunehmend der schweren nationalen Bürde zu entledigen, nationales Pathos weicht oft phantastischen, grotesken, absurden Geschichten; es entstehen Krimis, postmoderne Parodien und Umdichtungen, auf dass nicht „jeder Hinweis, jede Anspielung auf Estland, Heimat oder Muttersprache wie eine Nadel in die Brust wäre.“ (Urmas Vadi).

Kalevipoeg / ein Herakles von republikweiter Bedeutung / möchte nach Hause kommen / er hat jetzt einen amerikanischen Pass / und eine Heldenpension / aus einer nach ihm benannten Wissenschaftsstiftung in Indiana (Kalev Kesküla, Die Heimkehr des Kalevipoeg, 1998)

Mit rund 2.500 Titeln verfügt Estland heute über eine der höchsten Pro-Kopf-Buchproduktionen der Welt. Mit den Erfolgsromanen der finnisch-estnischen Schriftstellerin und Dramaturgin Sofi Oksanen rücken estnische Probleme zunehmend in das Bewusstsein eines internationalen Leserpublikums. Sofia Oksanen schreibt ihre Bücher über estnische Themen auf Finnisch, liest Literatur allerdings in beiden Sprachen.

Zu der finno-ugrischen Sprachfamilie gehörend, ist das Estnische mit dem Finnischen, entfernter auch mit dem Ungarischen verwandt. Aus der nahen sprachlich-kulturellen Verwandtschaft ergibt sich eine gewisse Vorreiter- bzw. Vorbildrolle, die Finnland während der sowjetischen Besatzung für Estland als ein wichtiges Fenster zum Westen (eigentlich Norden!) spielte. In diesem Kontext gesehen, verwundert das Zusammenspiel von Estnischem und Finnischem bei Sofi Oksanen kaum.

Ihr Theaterstück, Pudistus (Fegefeuer), machte sie 2007 in Estland bekannt, mit ihrem gleichnamigen Roman gelang ihr zwei Jahre später – inzwischen wurde das Buch in 38 Sprachen übersetzt – der internationale Durchbruch. 2010 erschien Fegefeuer in deutscher Übersetzung. Oksanens Bücher können als eine Art „Autofiktion“, eine Verbindung von Autobiographischem und Fiktionalem, Vergangenem und Gegenwärtigem, den stalinistischen Verfolgungen und Deportationen bis hin zur Unabhängigkeit des Landes angesehen werden. Ihr Roman Als die Tauben verschwanden (2012, deutsche Übersetzung 2014, 2016) thematisiert ebenfalls Estland und das Baltikum mit der traumatischen deutschen und sowjetischen Besatzung, verbunden mit einer Spurensuche nach ihren Vorfahren und eigenen Wurzeln.

Bildung und Kultur besitzen in Estland einen besonders hohen Stellenwert, sie sind wichtiger Bestandteil der heutigen estnischen Identität. Ende der neunziger Jahre wurde begonnen, das estnische Bildungssystem mit Hilfe modernster Computertechnik und eines superschnellen Internets so umzugestalten, dass Absolventen estnischer Schulen und Universitäten im internationalen Vergleich bis heute als besonders leistungs- und konkurrenzfähig gelten. Die in Zeiten der Fremdherrschaft  erprobten Überlebensstrategien, sich immer wieder auf Neues einstellen zu müssen, zahlten sich aus und halfen dem kleinen „baltischen Tiger“ nach der Wirtschaftskrise von 2008 schnell wieder auf die Beine zu kommen und seine führende Stellung in den Bereichen Hightech, Informationstechnik und Cybersicherheit auszubauen. „Die klugen schauen auf den Kern, die Dummen auf die Schale“ (Estnischer Aphorismus).

 

Eine kleine Bibliographie:

Bisping, Stefanie: Lesereise Estland. Wien: Picus Verlag 2010, 2019.

Hasselblatt, Cornelius: Geschichte der estnischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2006.

Joachimsthaler, Jürgen/Trepte, Hans-Christian: National-Texturen. National-Dichtung als literarisches Konzept in Nordosteuropa. In: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte, Band XVI/2007.

Kreutzwald, Friedrich Heinrich Kalevipoeg (Sohn des Kalev, 1857-1861), deutsch: Kalevipoeg. Das estnische Nationalepos. Stuttgart: Mayer 2004.

Kross, Jaan: Der Verrückte des Zaren. Berlin: Rütten & Loening 1988; München und Wien: Hanser 1990.

Lönnrot, Elias: Kaleva (1835), deutsch: Kaleva. Das finnische Epos des Elias Lönnrot. Stuttgart: Reclam 1979, 1989.

Murmann, Maximilian: Der Herbst kommt jedes Mal zu früh… Jüngere Literatur aus Finnland, Estland und Ungarn. In: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 255 2014.

Oksanen, Sofi: Pudistus (2007), deutsch: Fegefeuer Köln: Kiepenheuer und Witsch 2010.

Oksanen, Sofi: Kun kyyhkyset katosivat (2012), deutsch: Als die Tauben verschwanden. München: btb 2014, 2016.

Petersen, Peter: Estland: Meine Begegnung mit einem widerständigen Volk. Eine Liebeserklärung. In: Die Drei, Heft 11, 2003, S. 29-41.

Sinnig, Claudia/Trepte, Hans-Christian: Zwischen Oder und Peipus-See. Zur Geschichtlichkeit literarischer Texte im 20. Jahrhundert. In: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte, Band VIII/1999 Heft 2.

Tiedemann, Sibylle: Estland – mon amour, Dokumentarfilm 2005.

Tode, Emil: Piiririik (1993), deutsch: Im Grenzland, Wien: Zsolnay 1997.

von Fegesack, Siegfried: Die baltische Tragödie. Eine Romantrilogie (Erstausgabe 1935), Graz: Verlag V.F. Sammler 2004.

 

 

Foto: Angelo Giordano auf Pixabay

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